Dem Musiker Genesis Breyer P-Orridge ging es nie um Moral, sondern um radikale Freigeistigkeit

Zwischen Schöpfung und Haferschleim

Genesis Breyer P-Orridge hat so einiges miterfunden: Neben den Musikgenres Industrial und Acid House zum Beispiel auch ein neues Geschlecht. Mit seinen Bands Throbbing Gristle und Psychic TV kombinierte er Musik mit Performance, Video und Okkultismus und wurde damit eine wichtige Inspirationsquelle für viele Künstler der vergangenen Jahrzehnte. Im vorigen Jahr wurde bei P-Orridge Leukämie diagnostiziert. Ein Porträt.

Neil Andrew Megson entschied sich früh dafür, Genesis P-Orridge zu werden. Der neue Name passte auch viel besser zu ihm, zwischen den Extremen Schöpfung und Haferschleim sollte nämlich auch sein künftiges Schaffen pendeln. Gilt die drastische Kunst des Briten bis heute als verstörend und ernsthaft, wird häufig übersehen, wie viel abseitiger Humor in ihr doch steckt – wobei ­Videos von Verstümmelungen, die Adaption eines Vokabulars der ­Vernichtung, der Gestus einer paramilitärischen Sekte, ferner die Ver­ehrung und Stilisierung von Mördern, Kannibalen und Vergewaltigern, das Ganze begleitet von jener Antimusik, die das von ihm Mitte der siebziger Jahre mitbegründete Label Industrial Records stiftete, zumindest für eine pervertierte Spielart des Humors sprechen. Anders gesagt: Der Witz offenbart sich unangenehm schleichend.

P-Orridge geht es dabei immer darum, eben das aufzudecken und erfahrbar zu machen, was er als jenen dunklen Teil des Lebens ansieht, der gerne kaschiert wird oder in der Hand des Staats liegt. So ist sein Leben eines zwischen Avantgarde und Pop, Kontrolle und Dekonstruktion, zwischen Nacktheit und Mili­täruniform, Drogen und Schamanismus, Flucht und Angriff, Verehrung und Verlust.

Genesis Breyer P-Orridge wurde 1950 als Neil Andrew Megson im britischen Hull geboren. Ein Foto zeigt ihn als Kind mit verschmitztem Grinsen und mit jenen wachen, stechenden Augen, die aus dunklen Höhlen den Wahnsinn ­dieser Welt betrachten. Das Leben des Künstlers Genesis P-Orridge scheint bereits seit den ersten Gehversuchen Mitte der sechziger Jahre, als der Teenager noch im Geiste der Hippies Happenings veranstaltete, vom Drang geprägt zu sein, das Leid der Welt ­voyeuristisch zu betrachten; dabei stets geleitet vom Impuls, diesen Umstand schmerzhaft zu thematisieren – und dabei selbst daran zu verzweifeln. Um Moral geht es ihm dabei von Anfang an nicht, vielmehr um eine radikale Freigeistigkeit, die vom gegenkul­turellen Impetus William S. Burroughs geprägt ist, ein Künstler, der P-Orridge wie viele andere seiner Generation maßgeblich beeinflusste. Burroughs gelesene Cut-ups wurden dann auch vom Musiklabel von P-Orridges Band Throbbing Gristle, Industrial Records, unter dem Titel »Nothing here but the recordings« Anfang der Achtziger auf Vinyl veröffentlicht.

Der wie wahnwitzig darbietende Genesis P-Orridge gab sich meist unter Integration des Publikums in völliger Ekstase der Performance hin und wirkte damit der strategischen Unterkühlung entgegen.

P-Orridges erste Künstlergruppe nannte sich COUM Transmissions und bestand von 1969 bis 1976. Ein paar Jahre führten sie Performances im Stile des Wiener Aktionismus durch, bis sie mit der Londoner Ausstellung »Prostitution« 1976 einen landesweiten Skandal auslösten. Mit Geldern vom Staat gefördert, zeigten sie blutige Tampons in Vitrinen und Pornographie und thematisierten damit das Verhältnis von Schaulust und Ekel. Mitglieder waren ­neben P-Orridge auch die ihn später bei Throbbing Gristle begleitenden Cosey Fanni Tutti und Peter »Sleazy« Christopherson. Nachdem Tutti 1973 mit dem enfant terrible P-Orridge aus Hull nach London ins East End gezogen war, wo das junge Paar mit den Klangtüftlern Christopherson und Chris Carter COUM Transmissions gegründet hatte, ließen die Beteiligten diese Gruppe schnell in jenen »pochenden Knorpel« alias Throbbing Gristle (umgangssprachlich für ein erigiertes Glied) über­gehen, eine Band, die schnell eine große Popularität in der Punkszene gewannen. Doch mit den Punks konnte sich das Quartett nicht so recht anfreunden. So oder so, vielen Anhängern der neuen Bewegung in England war das ungreifbare Gebaren der in Soldatenmontur auf­tretenden Gruppe dann doch zu krass: Industrial Records etwa, das 1975 gegründete Label, auf dem ­zukünftig eigene und artverwandte Musik und Antimusik veröffentlicht wurde, trug als Logo die Stilisierung eines Krematoriums aus Auschwitz, ihren Proberaum nannte das Kollektiv »Death Factory«.

Throbbing Gristle verbanden die avantgardistische Herangehens­weise von COUM Transmissions mit den medialen Mitteln der Populärkultur, nutzten filmische Projektionen, um etwa durch inszenierte Verstümmelungen das Publikum zu überfordern. Mithilfe von Sound und Licht versuchten sie dann, die Konzertgäste vollends zu desorien­tieren, was interessante Effekte zwischen Ohnmacht und Begeisterung hervorbrachte – und damit die verschiedenen Interessen offenbarte, die die TG-Fans an der drastischen Kunst hatten: die Grenzüberschreitung und das Spektakel – zum einen als Mittel der Provokation der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem Ziel, jegliche Form von Normalität zu torpedieren, zum anderen als Fetisch der Nachkriegsgeneration, als entlarvte Schaulust.

Wegen der zahlreichen Skandale stand P-Orridge bereits seit der Zeit bei COUM Transmissions auf Listen der Behörden und wurde immer wieder von diesen aufgesucht und einige Male sogar festgenommen. In den Neunzigern ging P-Orridge ins selbsternannte »Exil« in die USA, weil in Großbritannien ein Haftbefehl gegen ihn ausgestellt worden war. Man warf ihm Pädophilie aufgrund von Videomaterial vor, das während eines Konzerts gezeigt worden war. 1999 wurde der Fall ein­gestellt.

 

Throbbing Gristle hatten in den Siebzigern immer größere Konzerte gespielt und auf ihren Touren bald das Vereinigte Königreich verlassen. Die von ihnen veröffentlichten Platten waren (wie später auch bei der Nachfolgeband Psychic TV) meist Dokumentationen von Performances, Hybride aus Live-Ma­terial und Studio-Experimenten, sogenannte Reports – ein Prinzip, dass sich auch in Videomitschnitten der Auftritte niederschlug, in denen sowohl Live-Band als auch Projek­tion gefilmt wurden. Durch diese ­Arbeitsweisen entstanden transmediale Arbeiten, lange bevor derlei ­Begriffe überhaupt diskutiert wurden. Sogar einen Chart-Hit landeten Throbbing Gristle mit dem peitschenden »Hot on the Heels of Love«, obwohl die Mitglieder mit bewusstem Dilettantismus und intensiver Klangforschung stets die Konven­tionen einer herkömmlichen Bandkonstellation sprengten und auf Konzerten – über frühe Headsets verbunden – mehr an Erfinder erinnerten als an Musiker. Der wie wahnwitzig darbietende Genesis P-Orridge konterkarierte dieses Bild dann doch, indem er sich meist unter ­Integration des Publikums in völliger Ekstase der Performance hingab und der strategischen Unterkühlung entgegenwirkte.

Dabei verstanden sich die Mitglieder von Throbbing Gristle unter­einander nicht immer besonders gut. Der erste umfangreiche Rückblick auf die Band und die vorhergehende Künstlergruppe, das Buch »Wreckers of Civilisation« von Simon Ford, erzählt gar von Plänen P-Orridges, auf der Bühne zu sterben, auch weil er die Trennung von Cosey Fanni Tutti nicht verkraftete. Throbbing Gristle waren ein Feuer, das schnell verlosch: Die Band löste sich 1981 in San Francisco auf. Sie hatten eine Rou­tine entwickelt in dem, was sie taten – und das reizte die Gruppe nicht mehr. Es ging ihnen immer um Bewegung, in der Band stagnierten sie.

Aus den Überresten von Throbbing Gristle gingen Coil (Peter Christopherson), Chris and Cosey (Carter und Tutti, bis heute ein Paar) und Psychic TV hervor, in letzterer Band war nicht nur P-Orridge, sondern auch Christopherson eine Zeit lang Mitglied. Psychic TV gelang zweierlei: Mit teilweise illustren Gästen aus der Musikwelt wie Soft-Cell-Sänger Marc Almond nahmen sie neben verstörenden Klangexperimenten auch strahlende Popsongs auf. Die Gruppe, die mit einigen Unterbrechungen bis heute existiert, wandte sich auf den Studioalben dabei ­Themen zu, die vor allem P-Orridge interessierten. Charles Manson, Aleister Crowley, Okkultismus, Schamanismus, kurz: das Programm ­einer Sekte. Solch eine gründete Genesis P-Orridge dann auch zur selben Zeit, der »Temple Ov Psychick Youth«, der bisweilen eine Anhängerschar von über 10 000 Jüngern vorweisen konnte. Über dezentrale Untergruppen wurden diese in der Form von regelmäßigen Bulletins mit den neuesten Erlassen und Produkten ihres Gurus vertraut gemacht und trugen einen hedonistischen Anarchismus in die Welt. Apologeten gibt es bis heute, wenn sie auch mehr ein Erbe zu verwalten scheinen, als dass sie Neues hervorbrächten.

In den folgenden Jahrzehnten waren Psychic TV, die sowohl personell als auch ästhetisch einige radikale Veränderungen erlebten, immer dort, wo musikalisch etwas Neues entstand, trugen bisweilen sogar maßgeblich zu popkulturellen Innova­tionen bei. Neofolk ging durch ihre Hände, Spoken Word und Acid House. Nur das Transmediale und Genesis P-Orridge blieben als Konstanten, doch auch dieser sollte sich bald radikal verändern.

Es ließen sich noch unzählige weitere und bisweilen äußerst abenteuerliche Stationen dieses extremen Künstlerlebens erzählen, das schon angesprochene »Exil« in Kalifor­nien oder der Brand, der sich im Haus des Musikproduzenten Rick Rubin ereignete und P-Orridge zwang, sich nach dabei zugezogenen schweren Knochenbrüchen und Verbrennungen einer langen Rekonvaleszenz zu unterziehen: Sein Leben ist, neben der Radikalität, von einer Menge Tragik bestimmt.

Nach dem Brand in Rubins Haus vollzog sich der wohl sichtbarste Wandel in der Biographie des Künstlers. Er begann gemeinsam mit seiner neuen Partnerin Lady Jaye Breyer, einer New Yorker Domina, deren Dienste Genesis zu beanspruchen pflegte, mit dem Projekt »S/He«, das darin bestand, dass sich die Liebenden durch Schönheitsoperationen körperlich immer mehr aneinander anglichen – eine beinahe logische Konsequenz aus den Geschlechterexperimenten, mit denen sich P-Orridge bereits zur Anfangszeit von COUM Transmissions beschäftigte. Letztlich steckt in diesem Prozess erneut ein Kerngedanke Burroughs’: So ist die Geschlechts­verwandlung, nämlich einen Körper zu erschaffen, der gleichsam männ­liche wie weibliche Merkmale trägt, nichts anderes als die fleischgewor­dene Umsetzung der Cut-up-Technik des Autors von »Queer«. 2007 verstarb Lady Jaye an Krebs, Genesis Breyer P-Orridge trägt seitdem nicht nur ihren Namen weiter, sondern spricht permanent in der ersten Person Plural von »Wir«.

Ein Leben, das Spuren hinterlassen hat; in unzähligen Publikationen und Museumsausstellungen, in der Avantgarde, in der Popwelt, im Werk diverser Kunstschaffender, die P-Orridge nacheifern – aber auch in der Gesundheit des Ausnahmekünstlers. Im vergangenen Jahr wurde bei dem mittlerweile in New York ­Lebenden Leukämie diagnostiziert, seitdem kämpft »S/He« gegen die Krankheit, ungeachtet seines Bankrotts und der deutlichen Abkehr einstiger Wegbegleiter (Cosey Fanni Tuttis sehr lesenswerte, 2017 erschienene Autobiografie »Art Sex Music« gleicht stellenweise einer Abrechnung und zeichnet das Bild eines Egomanen). Es bleibt zu hoffen, dass die Nachrufe auf diesen Ausnahmekünstler noch sehr lange auf sich warten lassen. Genesis Breyer P-Orridge sollte lebend gefeiert werden, mit all seinen Widersprüchen.