Ein Besuch bei Israelis in der Nähe des Gaza-Streifens, die unter ständiger Gefahr durch Raketenbeschuss leben

Bleiben trotz des Terrors

Seit mehr als 17 Jahren Raketenbeschuss und nun auch noch Brand­sätze – Israelis leben in der Nähe des Gaza-Streifens in ständiger Gefahr. Doch wegziehen will kaum jemand.
Reportage Von

Am Tag, als die erste Rakete auf Sderot geschossen wurde, war Dov Trachtman zehn Jahre alt und bei einem Freund zu Besuch. Die Explosion hat er nicht gehört. Als aber auf allen Fernsehkanälen Israel-Karten eingeblendet wurden, auf denen Sderot markiert war, wurde ihm mulmig zumute. Er war hier ­geboren. Terror, sagt Trachtman, hatte er bis zu diesem Tag im März 2001 ­immer nur mit Attentaten in großen Städten assoziiert. Es fiel ihm schwer, vor die Tür zu gehen, um die 200 Meter nach Hause zu laufen. Nachdem er sich überwunden hatte, hörte er auf halben Weg Maschinengewehrfeuer und bekam Panik.

Dov Trachtman ist mittlerweile 27 Jahre alt und seit 2014 im Sderot Media Center (SMC) aktiv. Sein Anliegen ist, den seit mehr als 17 Jahren andauernden Raketenterror einer breiten Öffentlichkeit bekanntzumachen. Er sah Rettungskräfte nach Raketeneinschlägen um das Leben von Kindern und Jugendlichen kämpfen. In seiner Straße ­wurde ein Mensch durch eine Kassam-Rakete getötet.

Das Leiden auf der israelischen Seite, so beklagt Trachtman, werde unter ­Verweis auf die Bunker und das Raketenabwehrsystem ständig heruntergespielt. Auch werde über die Raketen gesprochen, als handle es sich um Feuerwerkskörper. Das unbestreitbare Elend der Menschen in Gaza anulliere das Leiden der Menschen in Israel nicht. Wer, so fragt er, hat schon einmal von Ella Abukasis gehört? Ayala-Haya (Ella) Abukasis, nach der ein Jugendzentrum in Sderot benannt wurde, ist 2005 an den Wunden gestorben, die ihr Raketensplitter zugefügt haben, als sie sich bei einem Angriff über ihren zehnjährigen Bruder geworfen hat, um ihn zu beschützen. Bereits ein halbes Jahr zuvor forderte der Raketenterror die ersten Toten in Sderot – ein alter Mann und ein Kind.

Statt mit Verzweiflung reagierten die Bewohner des Kibbuz Be’eri mit Entschlossenheit auf den Feuerterror.

Am Sabbat vor dem WM-Endspiel, erzählt Trachtman, seien mehr als 200 Raketen auf Israel gefeuert worden. Einige hätten Sderot getroffen, wobei eine Rakete in den bombensicheren Anbau eines Gebäudes eingeschlagen habe. Der 2010 fertiggestellte Bunker habe die Bewohner des Hauses gerettet. Der ­Raketenterror wurde eskaliert, nachdem bei den jeden Freitag stattfindenden Ausschreitungen an der Grenze ein israelischer Soldat durch eine Granate verletzt worden war und die israelische Luftwaffe Vergeltungsangriffe geflogen hatte. Die 38jährige Mally Pnina Tapiro, die Trachtman nach der Attacke für seinen Blog befragt hat, meinte, dass man die innere Stärke der Bewohner nach inzwischen fast 18 Jahren nicht überstrapazieren dürfe. Bei weiteren Ausschreitungen am 20. Juli wurde ein 21jähriger israelischer Soldat erschossen, die israelische Luftwaffe flog danach heftige Angriffe gegen die Terrorinfrastruktur im Gaza-Streifen. Weiterhin besteht die Gefahr, dass es zum vierten Krieg in zehn Jahren kommt.

Zu den Raketen kommen seit März an Drachen hängende Brandsätze. Es ist bereits eine Fläche abgebrannt, die dreimal dem Central Park entspricht. Während eines Filmfestivals ging ein Sonnenblumenfeld 50 Meter vor dem Eingang des Sapir College am Stadtrand von Sderot in Flammen auf.

Die Menschen im Gaza-Streifen sieht Trachtman als Opfer der brutalen ­Hamas-Diktatur, ohne sie ganz aus der Mitverantwortung für diese Zustände zu entlassen. Er ist sich sicher, dass die Mehrheit der Palästinenser im Gaza-Streifen kein Interesse an einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit Israel hat. An den Krawallen an den Grenzen, so meint er, beteiligten sich außer Mitgliedern von Terrororganisationen nur Menschen, die dazu gezwungen werden. Trachtmans Eltern halten wie viele andere Bewohner von Sderot Kontakt mit palästinensischen Bekannten aus Gaza.

 

Boom in der »Stadt der Bunker«

Rechte Parteien holten in der 1951 gegründeten Stadt Sderot bei den letzten Wahlen drei Viertel der Stimmen. Die meisten Bewohner, so sagt Trachman, seien entschieden gegen den 2005 ­beendeten Abzug der Israelis aus Gaza gewesen. Ihre Sorge, dass der Rückzug ihnen keinen Frieden bringen, der Terror vielmehr eskalieren werde, habe sich als berechtigt erwiesen. Solidarität in schwierigen Zeiten, wie sie während der letzten militärischen Auseinandersetzung praktiziert wurde und auch in den vergangenen Wochen wieder anlief, bedeute den Menschen in Sderot sehr viel. Viele Israelis aus anderen Teilen des Landes kaufen in den Gebieten nahe dem Gaza-Streifen ein oder unternehmen Ausflüge dorthin, um die Bewohner finanziell zu unterstützen.

Trotz des Terrors erlebt die »Stadt der Bunker« seit etwa vier Jahren einen Boom und Prognosen sehen Sderot, das derzeit 25 000 Einwohner hat, auf 60 000 Einwohner anwachsen. Ein Grund dafür ist die Anbindung ans Eisenbahnnetz und damit an das Hightech-Zentrum im nahen Be’er Sheva. In den vergangenen Jahren zogen viele Studenten des Sapir College in die Stadt. Nachdem Anfang der nuller Jahre alle Pubs in Sderot schließen mussten, wurde in den vergangenen Jahren eine Reihe neuer Pubs eröffnet, von denen sich drei halten konnten.

Wie Sderot liegt auch der für Wohlstand und Zusammenhalt bekannte Kibbuz Be’eri nur wenige Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt. Er zählt mehr als 1 000 Bewohner. Die Kollektivsiedlung ist nach dem Arbeiterführer Berl Katznelson benannt, bei der letzten Wahl fielen von 667 Stimmen 443 an die Arbeitspartei und 109 auf die linke Partei Meretz. Bis zum Ausbruch der ersten Intifada seien die Bewohner von Be’eri an den Strand von Gaza gefahren, erzählt Rami Gold, der seit 30 Jahren in dem Kibbuz lebt.

Zameret Samir sorgt sich auch um Bekannte auf der anderen Seite der Grenze. Sie weigert sich, Frieden für unmöglich zu halten.

Bis vor zwölf Jahren hätten Bewohner des Gaza-Streifens in Be’eri gearbeitet. Nachdem die Arbeiter nicht mehr hätten kommen können, hätten die Kibbuzniks Geld gesammelt, um ihnen weiter die Löhne zu bezahlen, und blieben telefonisch in Kontakt mit ihnen. Weil sie in den Städten lebten und nicht in den Flüchtlingslagern, seien sie von der Hilfe der UNRWA, des UN-Hilfswerks für die Palästinensergebiete, ausgenommen. Die Unterstützung habe bis ins Frühjahr dieses Jahres gereicht. Dann hat Gold den Bekannten, mit denen er in Kontakt steht, zu verstehen gegeben, dass er nicht länger gewillt sei, ihnen zu helfen.

Bei einer Rundfahrt durch das weitflächig verbrannte Naturschutzgebiet sagt Gold, dass die Welt schon immer gegen die Juden gewesen sei. Heute aber hätten die Juden ein Land, das sie verteidigen könnten. Wenn die Palästinenser friedlich seien, so sagt er, dann seien sie herzlich willkommen – wenn sie aber Krieg wollten, dann bekämen sie Krieg.

Be’eri ist der vom Feuerterror am härtesten getroffene Ort in Israel. Im Naturschutzgebiet Be’eris, zu dem auch eine Kraterlandschaft und altertümliche Schwefelminen gehören, ­brachen Hunderte Brände aus. Auf einer Fahrt durch das Naturschutzgebiet ­beschreibt Gold die Ausmaße der »sinnlosen Zerstörung«, wie er sagt. Um die Tiere zu schützen, wolle man das Gebiet auf keinen Fall großflächig abbrennen lassen, sagt er. Um sie vor dem Verbrennen zu retten, seien Schildkröten eingesammelt worden.