Zum Stand der deutschen Rassismus-Debatte

Der Schatten des Orients

Seite 3 – Der Westen und die Menschenrechte

Die politischen Erschütterungen, die wir spüren, sind nach wie vor die Erschütterungen der Finanzkrise und Bankenkrise, die einerseits in Form kapitaler Macht den einzelnen Staaten des Westens Austeritätsprogramme auferlegte und sie dazu nötigte, die Sozialsysteme weiter einzuschränken und andererseits dieselben Staaten dazu brachte, in einen erweiterten Wettbewerb mit ihren Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu treten, um nicht als Erste unters Rad zu kommen. In dieser Gemengelage erlebten nicht nur die USA, sondern sehr wohl auch in Deutschland das Gefühl einer nationalen Demütigung, einen Auftrieb, das sich ein Ventil suchen musste und es in den Mechanismen eines revitalisierten Imperialismus fand. Während vorerst noch die Westbindung gesucht wird und die transatlantische Freundschaft noch Lippenbekenntnisse bekommt, schwebt schon der Schatten eines Orients über dem Westen, dessen Orientalisierung nichts weiter ist als sein eigenes dunkles Geheimnis. Der Orient als solches existierte nie außer als Vorstellung des Okzidents und im gleichen Maß, in dem der Westen seine Autonomie gegenüber dem Kapitalverhältnis verliert, ersteht im Osten sein dunkler, autoritärer Gegenspieler als Gespenst des Kommunismus aus dem Grabe auf. Die Angst vor dem Osten koinzidiert mit dem Irrtum über den Westen als Geburtsort der Menschenrechte. Die Vereinten Nationen, die sich als Antwort auf den Nationalsozialismus überhaupt erst gründeten, konstituierten sich damit schließlich, obschon westlich, grade nicht im Sinne des Westens, sondern als der eigentliche Gegner eines mit Deutschland allemal westlichen Landes, dem es als erstes unterlaufen war, eine komplette Bevölkerungsgruppe aus seinem politischen Leben auszuschließen und so den Geist des Kommunismus zu bannen.

Die Furcht vor dem entfachten Weltbrand schließlich konstituierte den Westen neu als Geburtsort der Menschenrechte, die sich zurecht als Verwirklichung der Ideale von 1789 verstehen durften und die in ihrer Umsetzung dann ab 1989 und dem Zusammenbruch des Ostblocks beanspruchen konnten, eine regelrechte Alleinvertretung durch den Westen zu haben. Diese bereinigte Geschichte des Liberalismus, in der die Erinnerung an den Faschismus de facto ausgelöscht erscheint, konstituierte den Westen als den Statthalter der Liberalität, die sich in Form der „politischen Korrektheit“ sukzessive jede begriffliche Einordnung politischer Subjekte versagte und selbst beschnitt, was die politischen Subjektivitäten von einst — seien es Feministen, Kommunisten, Anarchisten oder gar Arbeiter — entpolitisierte und damit unter der Hand als reine Marktsubjekte setzte. Diese Marktsubjekte, deren Abstimmungsverhalten in letzter Instanz mit dem Geldbeutel erfolgte und darüber noch einmal eine klare Subjektivierung, zumindest auf dem Markt, erlaubte, sind in den politischen Raum zunehmend nur noch als Stimmvieh eingebunden, das in vierjährigem Turnus den status quo in einer Wahlaktion bestätigt und als zahlungskräftiger Absatzmarkt, dem zugleich allerdings im Zuge des Abschmelzen des Mehrwerts die Zahlungskraft verloren geht, was auch zu einer Entsubjektivierung auf diesem Gebiet führt.

Zurück bleibt nur das Gefühl totalen disenfranchisement, ein Begriff, der nicht zufällig dem Markt entlehnt ist: selbst das Merchandise, das der Markt anfangs noch anbot, als Zugehörigkeitsangebot zum Westen und das anfangs einem ostdeutschenfeindlichen Klischee zufolge auch in Form von Videorekordern und Bananen aus den Händen gerissen wurde, entpuppt sich zunehmend als Müll und verlangt nach neuen Formen der Partizipation.

Sofern die Partizipation in diesem neuen, totalitären Staat nur noch als Gängelung sichtbar wird, die sich in Jobcentern, Einkaufshallen und ähnlichem beständig zeigt als die Drohung, am sozialen und politischen Leben ohne monetäre Handhabe nicht mehr teilhaben zu dürfen, wird diese Gängelung, die im Neoliberalismus noch im selben Maße als scheinbar natürliches Schicksal der Armen galt, nun aktiv übernommen und bejaht. Die Enthemmung, die die Anhänger Trumps und Seehofers betreiben und zynisch bejahen, ist nichts anderes als die enthemmte Gewalt des Systems, das sich nun personifiziert ermächtigt und in die Lage setzt, endlich selbst einmal die Knute in der Hand zu halten und zu schwingen.

Absoluter Erfolg und totale Niederlage der Kulturindustrie gehen hierbei Hand in Hand: die wechselseitige Gängelung durch immer neue Typen der Diskriminierung sorgt dafür, beständig den Druck auf die einzelnen Bevölkerungsteile zu erhöhen, am Wettlauf teilnehmen zu wollen, während andererseits der Wettlauf sich selbst delegitimiert. Die personalisierte Herrschaft, die sich in der Hand einiger weniger Gewinner sammelt, erscheint gegenüber der anonymen Vergesellschaftung des Kapitals, die für eine gleichberechtigte Diskriminierung aller sorgt ,mit einem Male als geradezu ansprechend und beruhigt. Die elitären Gruppen können sich dabei der Zugehörigkeit auch liberaler Teile der Bevölkerung versichern, indem sie ihren Anteil an der Deliberalisierung zunächst als Liberalisierung verschleiern. Ein Fallbeispiel mag das demonstrieren.

Özil und Deutschland

Während nach dem Besuchs des Fußballers Oliver Bierhoffs bei Putin keinerlei Kritik laut wurde, erfolgte ein wesentlich höheres Echo beim nach eigener Aussage „halben Russen“ Lothar Matthäus, bis die Situation schließlich über das Foto von Mesut Özils mit Erdogan eskalierte. Nachdem Özil sich so starken Anfeindungen ausgesetzt sah, dass er schließlich seinen Platz in der deutschen Nationalmannschaft aufgab, trat die Presse noch einmal nach, indem sie flächendeckend den Brief des Kurden Deniz Naki veröffentlichte, der ihn dazu aufforderte, zunächst gegen Rassismus in der Türkei Stellung zu beziehen, bevor er sich zu Rassismus in Deutschland äußere. Indem so die Deutschen vom Vorwurf selbst rassistisch zu sein exkulpiert wurden und der Rassismus in der Türkei angesiedelt wurde, gelang es einerseits der deutschen Presse ein liberales Statement zu äußern und andererseits den Vorstoß zu machen, einem deutschen Staatsbürger mit türkischen Wurzeln mitzuteilen, er solle in die Türkei heimkehren.

So desolat der Zustand der Presse bereits jetzt schon ist, ihren Untergang wird sie in dem Moment besiegeln,  indem sie beginnt, auf die Berichterstattung über fake news aufzuspringen: Kulturindustrie und Journalismus sägen am Ast, auf dem sie sitzen.

Rassismus wird unter dem Banner des Liberalismus salonfähig, bevor er sich offen zu sich selbst bekennt, indem die Eliten und Mehrheiten erkennen, dass sie eigentlich die „meistbetroffenen“ sind. So berichtete die Welt, dass es „natürlich Rassismus“ sei, wenn Deutsche als Kartoffeln beleidigt würden. Die inhaltlich völlig korrekte Aussage fügt sich in einen Kontext, in dem es sich zunehmend normalisiert, dass unter liberalen Vorzeichen grade die Kämpfe der im Liberalismus benachteiligten Gruppen um Partizipation wo nicht negiert, so doch hintangestellt werden, um der Mehrheitsbevölkerung mitzuteilen, dass ihre relative Bevorzugung doch etwas sei, woran sie als ebenfalls Benachteiligte das Recht hätten, festzuhalten. Dieses Recht, an übervorteilenden Privilegien festzuhalten wiederum bildet die Grundlage des Umschlags in das, was dann in den USA bereits unter Trumps Ägide betrieben wird und als Herrschaft der Lüge angesehen werden kann. Sofern die Lügen, die ab diesem Punkt benötigt werden, um die Übervorteilung durch partikulare Interessensgruppen noch plausibel erscheinen zu lassen, auch als solche kenntlich sind, rechnet es zu ihrer Strategie, noch das benennen der Lüge als Lüge zu verfälschen und ihre Herrschaft damit total zu machen.

So desolat der Zustand der Presse bereits jetzt schon ist, ihren Untergang wird sie in dem Moment besiegeln,  indem sie beginnt, auf die Berichterstattung über fake news aufzuspringen: Kulturindustrie und Journalismus sägen am Ast, auf dem sie sitzen. Ob die vierte Gewalt die anderen drei vor sich selbst retten kann, ist fraglich.