Über die Ablehnung des Westens von links

Monotonie der Ablehnung

Seite 3 – Fortwesen des Antiimperialismus
Essay Von

1989/90 zerfiel der Rahmen antiimperialistischer Welterklärung. Von der Ost-West-Konfrontation überdeckte politische Kategorien ent­falteten neue Anziehungskraft. Das Denken in ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten wie auch geopoli­tische Orientierungen entstammten der Erbmasse der Imperien des 19. Jahrhunderts. In Europa markierte der Zerfall Jugoslawiens in sich bekämpfende bosnische, kroatische, serbische und slowenische »Völker« sowie sich feindlich gesonnene ­orthodoxe, katholische und muslimische Gläubige die Rückkehr ­einer im Kalten Krieg verdrängten Geschichte. Die Konfliktparteien ­bedienten sich aus Arsenalen, die bereits während der Nationalitätenkämpfe im Habsburger und Osmanischen Reich befüllt worden waren.

Unter diesen Bedingungen hatte die Unterscheidung von Imperialismus und Antiimperialismus, erster und Dritter Welt vollends keinen Sinn mehr. Zumal sich die Gegner westlicher Ordnungsversuche nicht mehr der Kategorie »Fortschritt« zuordnen ließen. Doch beharrten viele antiimperialistisch sozialisierte Linke auf den eingeübten Deutungs­mustern, weil sie angesichts der von Massen getragenen Revolutionen ­gegen den Staatssozialismus und der offenkundigen Begeisterung für ­liberale Formen bürgerlicher Herrschaft einen Rest an Orientierung versprachen. Dementsprechend ­wurde in einem Positionspapier des zu Pfingsten 1990 ausgetragenen ­Kongresses der Radikalen Linken die ­Demokratisierung des Ostens als »Kolonisierung (…) durch BRD, EG und Nato« begriffen. Aufgabe der Linken sei es daher, die »Zersetzung von Nato und EG« sowie den »Austritt der BRD aus der Nato« voranzutreiben.
Im Jahr 2009, anlässlich der Feiern zum Jubiläum des Mauerfalls, zeigte sich das linksradikale Ums-Ganze-Bündnis nicht viel klüger. So hielt man den Repräsentanten der Berliner Republik ausgerechnet vor, sie würden Deutschland in die ­»Riege bürgerlicher Musterstaaten« drängen. Das Ansinnen, sich mit den Gedenkfeierlichkeiten »eine revolutionäre Gründungsurkunde wie England, Frankreich und die USA« auszustellen, kritisierte Ums Ganze aber nicht wegen der Anrufung völkischer Einheit im Vereinigungsprozess und den folgenden pogromartigen Angriffen auf Asylsuchende, ­obwohl doch gerade dies die Prekarität der Liberalisierung aufzeigte. Stattdessen wurde die bürgerliche Freiheit auf jene der kapitalistischen Konkurrenz reduziert, »deren Brutalität (…) durch Vergleiche mit den Staatszwängen des Realsozialismus, oder mit dem Wüten der Volksgemeinschaft im NS« auch nicht besser werde. Mit einem Federstrich ­waren so jene Unterschiede kassiert, die ausschlaggebend dafür waren, dass Flüchtlinge aus NS-Deutschland und der DDR zuvörderst in westlichen Demokratien Aufnahme erhoffen konnten. Die Nivellierer von Ums Ganze weigerten sich, in bürgerlichen Verhältnissen mehr zu sehen als kapitalistische Landnahme. Kapitalismus galt ihnen in schlechter ­linker Tradition vor allem als Imperialismus.

 

Die deutsche Frage

Auch die frühe Anerkennung Kroatiens und Sloweniens durch die deutsche Außenpolitik ließ sich als Rückkehr nationaler Hegemoniekämpfe in Europa deuten. Offen schien nun wieder, auf welche Weise die öko­nomisch potenteste und bevölkerungsreichste »Macht in der Mitte« die staatliche Ordnung des Kontinents zu beeinflussen sucht. Die Unterstützung der ethnisch-territorialen Nationalisierung auf dem Balkan konnte als Bekenntnis gegen konfessions- und herkunftsübergreifende Verfassungsprinzipien und als Widerspruch gegen den Kernbestand des liberalen Konstitutionalismus des Westens verstanden werden. Zugleich zog im wiedervereinigten Deutschland eine ganze Reihe prominenter Historiker, politischer Berater, Journalisten, Berufsoffiziere und konservativer Intellektueller Sinn und Zweck der Westbindung in Zweifel.

Die Offensive der rechten Antiwestler brachte die Linke dem Westen keinen Schritt näher. In der militärischen Intervention der Nato auf dem Balkan erkannte sie nur einen neuerlichen amerikanisch dominierten Raubzug. Selbst die Minderheit antideutscher Linker, die aus geschichtspolitischen Erwägungen eine ­Ahnung von den zivilisatorischen Effekten der Westbindung ­hatte, ­entpuppte sich als Gegnerin der Ordnungspolitik im zerfallenden Jugos­lawien. Während sie dem damaligen grünen Außenminister Joschka ­Fischer vorwarf, in falscher Analogie das Massaker von Srebre­nica mit Auschwitz gleichzusetzen, riefen sie selbst unentwegt die ­Konstellation des Zweiten Weltkriegs auf, um den antideutschen Anti­imperialismus zu plausibilisieren. Deutschland wiederhole mit der ­Unterstützung von Kosovoalbanern und Kroaten die nationalsozialis­tische Balkan-Politik und habe mit dem Kurs der ethnischen Parzellierung Europas Amerika in den Krieg gezwungen, schrieb Matthias Küntzel im Jahr 2000. Im Ergebnis dieser anachronistischen Übertragung fanden sich die Antideutschen an der Seite der Traditionslinken wieder und nahmen gemeinsam mit China und Russland das Regime Slobodan Miloševićs in Schutz.

Das Bewusstsein für die Westbindung als Garantie der Zivilisierung des vormaligen »Dritten Reichs« blieb dagegen marginal. Daniel J. Gold­hagen, der Autor von »Hitlers willige Vollstrecker«, oder Andrei S. Markovits, der noch 1997 für seinen Widerspruch gegen Martin Walsers Paulskirchenrede viel Beifall von der Linken bekam, erfuhren für ihre posi­tive Bewertung der Verwestlichung Deutschlands Kritik. Beide plädierten dafür, die Massaker auf dem Balkan als Bedrohung eines universellen Humanismus ernst zu nehmen und das Handeln der westlichen Staatenwelt inklusive Deutschlands zu ­unterstützen. Vernünftig betrachtet könne weder die Bundeswehr mit der Wehrmacht noch die von demokratischen Institutionen geprägte Bundesrepublik mit dem »Dritten Reich« gleichgesetzt werden.

 

Der Westen als Fluchtpunkt?

Die nach 9/11 folgenden Debatten haben die gängigen Betrachtungsweisen kaum verändert. Der Antiterrorkampf fügte sich zumindest für die meisten Linken nahtlos in die traditionellen imperialismustheore­tischen Annahmen ein, auch wenn er sich in ökonomischer Hinsicht als völlig gescheitertes Projekt erweist. Und in den Diskussionen über Einwanderung und Islam negieren multikulturelle Toleranzedikte und der Hautfarbenessentialismus von critical whiteness das Ideal einer ungeteilten Menschlichkeit.

Davor in die neuerdings wieder auflebende Hoffnung von vornehmlich Linksliberalen zu flüchten, ein starkes Europa könne dem westlichen Liberalismus neue Energie einflößen, lässt sich als Haltung verstehen. Die Erfolgsaussichten sind jedoch ungewiss – schon weil solche Vorstellungen die Gefahr der ressentimentgeladenen Abgrenzung von Amerika in sich tragen, womit wesentliche Teile des »westlichen Freiheitsnarrativs« verloren gehen würden. Zudem bleibt ein »europäischer« Westen Austragungsfeld von Standortkonkurrenz. Unterschiedliche ­Wohlstandsniveaus, ökonomische Produktivität und Prinzipien der Haushaltsführung reiben sich auch in Europa.

Damit soll keiner ökonomistischen Endzeitbestimmung das Wort ge­redet werden; Standortlogik und Konkurrenz treiben den Westen nicht zwangsläufig auseinander, denn sie wirkten bereits vor 1989. Doch selbst wenn die westlich orientierten Staaten Amerikas, Asiens, Europas, Ozeaniens und Südamerikas weiterhin kooperativen Initiativen zugänglich bleiben, erweisen sich die Zentrifugalkräfte doch gegenwärtig als um einiges stärker. Und diese Desintegration wird immer wieder von der deutschen Politik befeuert. So wie sich die Regierungen der ver­gangenen Jahrzehnte an der Renationalisierung im transatlantischen Verhältnis beteiligten und ihr nicht, wie in öffentlichen Debatten sug­geriert, machtlos gegenüberstanden, so versuchte die deutsche Europa­politik im Tonfall der Hegemonie und von einer Warte haushalts- oder ­geschichtspolitisch angemaßter Überlegenheit aus andere Staaten zur ­Anpassung an eigene Vorgaben zu drängen.

Angesichts der Krise des Westens wäre es eine vernünftige linke ­Haltung, solchen Tendenzen kritisch gegenüberzustehen. Denn klar ­sollte sein, dass eine multipolare Welt ohne den Westen keine bessere wäre. Sein Ende fördert weder eine ­stabile, Frieden und Konfliktlösungen sichernde Ordnung noch die politischen Ausgangsbedingungen für ein Projekt universeller Emanzipation. Doch derzeit kann der Wunsch, der liberale Westen möge so lange als Existenzraum kritischen Denkens und pluralistischer Lebensweisen überdauern, bis eine noch hoffnungsfrohere Aussicht auf Freiheit und Gleichheit zu begründen wäre, nicht an die Linke delegiert werden. Sie hält lieber an althergebrachten Feindbildern fest und zu befürchten ist, dass sie den Westen nicht einmal vermissen wird, wenn es ihn nicht mehr geben sollte.

 

Der Autor ist Mitglied der Gruppe Roter ­Salon im Conne Island, Leipzig