Das neue Album von Michaela Melián basiert auf Schallplatten, die der Reeducation dienten

Records and Reeducation

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In den Plattenkisten fand Melián Platten, die Folkways Records veröffentlicht hatte. Dieser Fund spiegelt die Situation besonders gut wieder. Es handelt sich dabei nämlich um Platten, auf denen die riesige kulturelle Vielfalt der USA hörbar wird. Es finden sich darauf Lieder von Native Americans, Gospels, Spirituals und Jodler, aber auch Lieder von Sklaven und Arbeiterlieder. Es ist die Musik von Gruppen, die bei der amerika­nischen Musikindustrie wenig Gehör fanden, in der kulturellen Außenvertretung jedoch kamen sie durchaus vor. Mit der Musik aller Minderheiten und Underdogs, die die US-amerikanische Nation ausmachen, wird die Geschichte der amerikanischen Musik dargestellt. Überhaupt spielt das Herausstellen der amerikanischen Themen eine große Rolle. Mit dem schwarzen Jazz einer Billie Holiday oder eines Miles Davis war in der Phonothek eine ureigene amerikanische Musikrichtung stark vertreten. Jazz war darüber hinaus selbst in Europa als avantgardistische, künstlerisch wertvolle Musik anerkannt. Daneben gab es zahlreiche Sprech­plat­ten, die direkt oder auch ver­mittelt die US-amerikanische Politik spiegeln: Theodore Roosevelt spricht vor dem Kongress, Theodore Roosevelt erzählt Witze, Eleanor Roosevelt liest Kindergeschichten.

Die erste Platte, die Melián im Keller fand, war »The Man Who Invented Music« von Don Gillis, einem weitgehend Unbekannten, der lange Zeit für Arturo Toscanini als Korrepetitor und als Aufnahmechef für Radiomitschnitte gearbeitet hatte. Auf der B-Seite dieser Platte fand sie die Komposition »Portrait of a Frontier Town« von 1940, deren zweiter Satz »Where the West Begins« heißt. Hier wird etwas vorweggenommen, nämlich München als Frontstadt: Die Radiosender Radio Free Europe und American Forces Network sendeten später von dort aus. Somit war München »frontier town zwischen Ost und West«, wie Melián der Jungle World sagt. »Und dann hat die Platte noch dieses irre Cover mit einer Comiczeichnung, die einen Mann mit Lederschurz zeigt, der in einer Schmiede mit Musikinstrumenten steht und eine Note schmiedet«, erzählt Melián weiter. Sie übernahm diese Zeichnung für das Cover ihrer eigenen Platte und änderte sie etwas ab – statt Don Gillis ist es nun sie selbst, die die Note schmiedet. In ihrem Werk bediente Melián sich immer wieder historischen Materials, das sie dann durch ihre Bearbeitung aktualisiert. In ihrem Hörstück »Memory Loops« von 2010 verwendet sie zum Beispiel Erzählungen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus in München, ließ sie nachsprechen und ordnete sie auf einer interaktiven Karte verschiedenen Orten in der Stadt zu. Neben dem historischen Material findet immer wieder auch barocke Musik Eingang in ihr Werk – oder die britische Glam-Rock-Band Roxy Music.

Nicht nur das Cover, auch die vier Stücke der Platte fußen auf den Kompositionen von Don Gillis. »Ich habe ein paar Akkordwechsel, also harmonische Wendungen, zitiert und das Tempo übernommen. Das Tempo des zweiten Satzes ist 60 beats per minute, und so sind alle meine Movements auch in 60 bpm. Das ist ein sehr langsames Tempo, ein Schreiten oder langsames Gehen. Und das passt ein bisschen zu München. Dieses Tempo peitscht einen nicht hoch, es entspricht einem entspannten Herzschlag«, beschreibt Melián ihre Adaption des historischen Materials. ­Insgesamt hat sie 300 Samples von 70 Stücken verwendet, die sie auf Platten der Sammlung gefunden hatte. »Ein Ton ist vielleicht von John Cage, der nächste dann vielleicht von Sun Ra«, erzählt sie. »Daraus habe ich sozusagen ein Schlagzeug gebaut. Eine Struktur aus den einzelnen ­Tönen. Und jeder Ton bringt einen anderen akustischen Raum mit, echte akustische Räume und Hallräume, die bei den Schallplattenaufnahmen im Studio dem jeweiligen Zeitgeist entsprechend hinzugefügt wurden. Zum Beispiel bei den Cowboys, den Aufnahmen, wie sie ihre Kühe rufen, da ist immer die Landschaft als akustischer Raum im Hintergrund. So hat jede Platte ihren eigenen Raum.«

Michaela Melián: Music from a Frontier Town (Martin Hossbach)