Die Geschichte der Eugenik in der Linken

Gesunder Leib, gesunder Revolutionär

Eugenik und Sozialdarwinismus wachsen nicht nur auf dem Mist der Rechten. Auch Linke sind für sie anfällig, wie die Geschichte zeigt.

Vom Bankmanager zum Tierrechtler – das dürfte eine eher seltene Laufbahn sein. Philip Wollen hat sie absolviert. Früher war der Australier Vizepräsident der Citibank und Hauptgeschäftsführer der Citicorp. Mittlerweile lebt er vegan und setzt sich für Tierrechte ein. Deshalb verlieh ihm der Förder­verein des Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung e. V. im Juni in Berlin den Peter-Singer-Preis. Die Laudatio bei der vierten Verleihung des Preises hielt dessen Namensgeber selbst. Vor drei Jahren war Peter Singer als erster mit dem nach ihm benannten Preis ausgezeichnet worden.

Vorsitzender des Fördervereins ist Stefan Eck, einschlägig bekannt, weil er im Jahr 2006 eine Tafel mit der Aufschrift »Für Tiere ist jeden Tag Dachau« vor der bayerischen KZ-Gedenkstätte hochhielt. Seit 2014 sitzt er für die Tierschutzpartei im Europaparlament und gehört mittlerweile als unabhängiger Abgeordneter der Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken an. Der australische Philosophieprofessor Singer definiert Behinderte, Demente und Neugeborene als »Nichtpersonen« beziehungsweise »Wesen« mit geringerem Lebensrecht als Gorillas oder Schimpansen. Er verharmlost Euthanasie als Erlösung und empfiehlt sie als Methode, um Geld zu sparen. »Ich möchte nicht, dass sich meine Versicherungsbeiträge erhöhen, damit Kinder ohne Aussicht auf Lebensqualität teure Behandlungen bekommen«, sagte Singer in einem Interview 2015.

Man werde ein »auf natur­wissenschaftlich-sozialer Basis aufgebautes Züchtungs­system« entwickeln, versprach der sozialistische Arzt Alfred Bernstein vor dem Ersten Weltkrieg.

Singer wurde mit seinem 1975 veröffentlichten Buch »Animal Liberation« bekannt, das als Bibel der Tierrechtsbewegung gilt. Er tritt als Umweltschützer und Vegetarier auf und ließ sich in Käfige sperren, um gegen Tierleid zu protestieren. 1999 plädierte Singer in seinem Buch »A Darwinian Left: Politics, Evolution and Cooperation« dafür, eine »darwinistische Linke« zu bilden. Mit Verweis auf die Evolutionspsycho­logie legt er Linken darin nahe, »Fakten über die menschliche Natur« anzuerkennen. Kritisch lässt sich das Werk so zusammenfassen: Singer fordert die Linke auf, die Gesellschaftskritik zugunsten eines Biologismus aufzugeben, der unter anderem Sexismus und Rassismus als natürliche menschliche Eigenschaften festschreibt.

Eine darwinistische Linke existiert seit dem 19. Jahrhundert, als viele prominente Linke sozialdarwinistische, eugenische und malthusianische Ideologien übernahmen, etwa Otto Bauer, Karl Kautsky und Eduard Bernstein, aber auch Emma Goldman. Die Kritiker waren eher rar, etwa der Rätekommunist Anton Pannekoek und der Anarchokommunist Peter Kropotkin, die den Darwinismus als Legitimationsideologie der bürgerlichen Gesellschaft kri­tisierten. Paul Lafargue, der Schwiegersohn von Karl Marx, betrachtete den Darwinismus als Ersatzreligion, die die Konkurrenz in die Natur projizierte, um die kapitalistische Konkurrenz zu rechtfertigen und soziale Ungleichheit als Naturgesetz darzustellen.  Auch Marx und Engels waren zwar begeistert von den Darwinischen Erkenntnissen, kritisierten aber gesellschaftliche Anwendungen. Ähnlich wie die Mal­thus’sche Bevölkerungstheorie sei die Phrase vom »Kampf ums Dasein« eine »sehr einbringliche Methode«, spottete Marx, aber nur »für gespreizte, wissenschaftlich tuende, hochtrabende Unwissenheit und Denkfaulheit«. Der britische Ökonom Thomas Malthus hatte in seinem »Essay über die Grundlagen der Bevölkerung« 1798 behauptet,  eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus sei umöglich, weil sich die Menschen schneller vermehrten, als das Angebot an Nahrungsmitteln ­größer werde. Auf sein Horrorszenario von der Überbevölkerung beziehen sich heutzutage noch liberale Umweltschützer, militante Biozentristen und auch die Neue Rechte.

Dagegen hatten seinerzeit selbst bürgerliche Ökonomen wie David Ricardo, Friedrich List oder Herbert Spencer Malthus kritisiert: Sie prognostizierten sinkende Geburtenraten in den sich industrialisierenden Staaten, die sich dann tatsächlich einstellten.

Dagegen hielten manche Feministinnen und Anarchisten Überbevölkerung für eine wichtige, wenn nicht gar entscheidende Ursache allen Elends. Im Unterschied zu Malthus hielten sie die Entwicklung aber für steuerbar. Diese genuin linken Neomalthusianer traten zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Gebrauch von Verhütungsmitteln ein und waren Repressalien ausgesetzt, weil Werbung für Verhütungsmittel in vielen Ländern verboten war. Sie wurden von Konservativen, Klerikalen und der neuen nationalistischen Rechten angegriffen, die mehr Kinder fürs Vaterland forderten.

Allerdings übernahmen diese Neomalthusianer rassistische und eugenische Argumente und kooperierten am Ende mit bürgerlichen und völkischen Rassenhygienikern. Bezeichnend waren die Ansichten Anita Augspurgs, einer Leitfigur des radikalen Feminismus. Sie forderte die Legalisierung der Kindstötung nach der Geburt und begründete das Recht der Frau, ihre Liebespartner frei zu wählen, damit, dass das Sexualleben »der Erhaltung und Verbesserung der Art« dienen solle. Die Unterdrückung der Frau führte ihrer Ansicht nach dazu, die »Leistungskonkurrenz«, die zur »Auswahl der Tüchtigsten« und damit zum »Gesamtfortschritt« beitrage, auf die Männer zu beschränken. Erst die wirtschaftliche Selbständigkeit versetze die Frau in die Lage, »ihren ureigensten Beruf – die Verbesserung der Rasse – zu erfüllen«, sagte Augspurg.

Wie anfällig die Linke für die Ideologie der Eugenik war, zeigt die berühmte Gebärstreikdebatte vor dem Ersten Weltkrieg. Die beiden sozialistischen Ärzte Julius Moses und Alfred Bernstein begannen 1912 eine Aufklärungskampagne über Verhütung. In Berlin besuchten Tausende ihre Versammlungen, vor allem ­Arbeiterinnen. Den Befürwortern des Gebärstreiks ging es zunächst um die Gesundheit von Arbeiterfrauen, weniger Geburten und Kinder sollten deren Leben erleichtern, die Frauen von der »Sklaverei der Gebärmutter« befreit werden. Illusionär war die Vorstellung, der Kapitalismus ließe sich in die Knie zwingen, wenn wegen des Gebärstreiks das Menschmaterial für ­Fabrik und Armee ausbliebe.

Bedenklich aber war das eugenische Versprechen der Verhütungsaufklärer von schönerem und stärkerem Nachwuchs. Man werde ein »auf naturwissenschaftlich-sozialer Basis aufgebautes Züchtungssystem« entwickeln, versprach Bernstein. Moses, der später für die USPD im Reichstag saß, bevor er 1922 zur SPD zurückkehrte, war überzeugter Verfechter von Eugenik und Neomalthusianismus. Bereits im Streit für den Zugang von Frauen zu höherer Bildung hatte Moses gesagt, »der Wehrfähigkeit des Mannes« entspreche bei der Frau die Fähigkeit, »in gesundem Leibe einem gesunden Geschlechte Leben zu geben«. Eine sinkende Geburtenrate sei eine normale Begleiterscheinung der Kultur, die weder negative eugenische Folgen habe, noch eine »ernsthafte Bedrohung der nationalen Selbsterhaltung« darstelle.

Schließlich lancierte der SPD-Vorstand eine Gegenkampagne: Das Parteiorgan Vorwärts druckte ablehnende Beiträge, in Berlin fand eine öffentliche Veranstaltung unter dem Motto »Gegen den Gebärstreik« statt. Mehrere SPD-Politiker warnten vor einem Niedergang von Rasse und Nation. Linksradikale Gegner des Gebärstreiks wie Rosa Luxemburg und Clara Zetkin argumentierten, weniger Arbeiterkinder bedeuteten weniger Soldaten für die Revolution. Eine Mittelposition nahmen Sozialistinnen wie Oda Olberg und Henriette Fürth ein, die zwar für Verhütung und eine Verringerung der Zahl der Geburten plädierten, sich aber gegen eine Zwei-Kind-Familie und für Familien mit vier bis fünf Kindern aussprachen, um einen »Rassenselbstmord« (Fürth) zu vermeiden.
Um solche bevölkerungspolitischen Einwände abzuwehren, verwies Bernstein auf Friedrich den Großen, der mit einer »Handvoll Soldaten« ganz Europa besiegt habe: »Es kommt eben nicht auf die Quantität, sondern auf die Qualität der Menschen an.« Die Geburtenkontrolle werde die Arbeiter von der Tuberkulose befreien. »Stolze und schöne Menschen will ich aus euch machen, geistige Kraft und körperliche Elastizität sollen aus euren Augen blitzen«, versprach Bernstein.

Die anarchosyndikalistische Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVDG) bat Bernstein damals um eine Broschüre. Mit einer Auflage von 31 000 Exemplaren bis Mai 1914 war das Werk »Wie fördern wir den kulturellen Rückgang der Geburten?« erfolgreich, es erschien mit den zitierten ­eugenischen Ausführungen in mehreren Auflagen im Verlag von Fritz Kater. Der Syndikalistische Frauenbund griff 1921 die Kampagne für den Gebärstreik wieder auf, mit Bernstein als Redner sowie den bekannten Argumenten für eine eugenisch motivierte Partnerwahl und den Behauptungen des Neomalthusianismus, der das Schreckgespenst der Überbevölkerung verbreitete.