Marlis Tepe von der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), im Gespräch über Arbeitsbedingungen an Schulen

»Regierungen sollen stärker eingreifen«

Seite 2
Interview Von

Hat sich auch das Arbeitsumfeld der Lehrkräfte geändert?
Die Anforderungen an die Kolleginnen und Kollegen steigen, auch die Klassen sind in vielen Bundesländern größer geworden. Die Kinderarmut steigt, ­dadurch ist die pädagogische Arbeit schwieriger. Auch für Kinder mit ­Migrationshintergrund und die Geflüchteten brauchen wir Lehrkräfte mit besonderen Kompetenzen. In manchen Bundesländern, in denen diese direkt in die Klassen integriert werden, ist das sehr herausfordernd für die ­Kolleginnen und Kollegen. Die Bedingungen sind nicht gut genug, damit das, was von den Lehrkräften erwartet wird – individualisiertes Lernen etwa –, gut geleistet werden kann.

Ist die Inklusion, das gemeinsame Unterrichten von Kindern mit und ohne Behinderung, dort, wo sie eingeführt wurde, personell angemessen abgefedert worden?
In den meisten Bundesländern ist zu wenig für die Ausbildung der Lehrkräfte getan worden, um diese für inklu­sive Bedingungen gut zu rüsten. Unser Wunsch ist, dass die Klassen möglichst oft mit zwei Kollegen besetzt werden, auch mit Sozialpädagogen. Die Schulen sind dafür personell jedoch viel zu schlecht ausgestattet. Da hat die Politik weitgehend versagt. Jetzt muss dringend umgesteuert werden, damit die Inklusion gelingen kann.

Welche Forderungen stellen Sie an die Bundesregierung und die Länder?
Wir wollen mit den jeweiligen Landesregierungen aushandeln, wie die Arbeitsbedingungen in dieser Mangelsituation zu gestalten sind. Wir halten es für nötig, dass die Regierungen stärker steuernd eingreifen, was die Plätze an den Hochschulen angeht, damit genügend Lehrkräfte ausgebildet werden. Dann könnten sukzessive die Arbeitszeiten etwas reduziert werden, damit unsere Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit gut machen können, ohne da­bei ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Die Bundesregierung will bis 2025 für alle Kinder das Recht auf Ganztagsbeschulung gewährleisten. Auch dafür brauchen wir mehr Erzieher und Lehrkräfte. In Brandenburg ist es gelungen, eine entsprechende Tarifvereinbarung abzuschließen, in anderen Bundesländern streben wir das an. Wir hielten es für klug, wenn die Regierungen mit den Gewerkschaften besser zusammenarbeiteten.

Finden solche Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Regierungen statt?
Mit Blick auf die Beamten haben wir das Recht, mit den Regierungen zu sprechen, sie müssen uns anhören, aber das ist nicht gleichzusetzen mit Tarifverhandlungen. Für angestellte Lehrkräfte gibt es – in der Regel alle zwei Jahre – auf Länderebene Tarifverhandlungen.

Kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht noch einmal bekräftigt, dass verbeamtete Lehrkräfte nicht streiken dürfen. Was halten Sie von dem Urteil?
Zurzeit werten wir das Urteil im Detail aus und werden dann entscheiden, ob wir zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gehen. Wir sind der Ansicht, dass das Streikrecht für Beamtinnen und Beamte ein demokratisches Grundrecht ist. Die Entscheidung werden wir im November treffen, wir haben bis Dezember Zeit, vor den EGMR zu ziehen.
Werden Streiks von nicht verbeamteten Lehrerinnen und Lehrern in Zukunft eine Rolle spielen?
In der Vergangenheit haben wir in besonderen Situationen immer wieder einmal zum Streik aufgerufen, in verschiedenen Bundesländern, zu verschiedenen Themen. Trotz des Urteils werden wir auch zukünftig im Einzelfall überlegen, ob wir Kolleginnen und Kollegen zum Streik aufrufen.

Wie lange würde es dauern, bis man wieder zu einer angemesseneren Personallage kommen könnte?
Es dauert rund sieben Jahre, bis eine Lehrkraft voll ausgebildet ist – mit Studium und Vorbereitungsdienst. Deshalb müssen die Regierungen jetzt nachsteuern, die Zahl der Studien- und Referendariatsplätze erhöhen sowie den Beruf attraktiver gestalten. Zurzeit wird da viel zu zögerlich gehandelt.