Die DIY-Musikszene im kanadischen Edmonton

Eine Stadt wie ein Independent-Film

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Sie gehen nach Vancouver oder Montreal zum Beispiel. Ich will lieber selbst was machen. Dafür ist Edmonton ein guter Ort.« Die Szene ist vergleichsweise überschaubar und es gibt im Grunde keine Industrie, die mitbestimmt. Benny Blitz und seine Freunde haben eine Menge Gestaltungsfreiraum hier oben in der kanadischen Prärie.

Das reizt auch Brandi. Wie Ben lebt auch sie inzwischen fast ihr halbes Leben in Edmonton: »Mit 16 bin ich aus einer kleinen Stadt hergezogen, in der es überhaupt keine Musikszene gab. Eigentlich gab es überhaupt keine Live-Musik. Als ich hier ankam, hat mich die Punk-Community mit offenen Armen empfangen und inzwischen ist sie wie eine Familie für mich.«

Auch Graeme zeichnet das Bild einer Familie: »Ich hab mir die Szene ja nicht ausgesucht, ich bin quasi da reingeboren. Mit den anderen ist es wie mit Geschwistern: Sie sind da und meistens macht es Spaß und manchmal sind sie eben auch super-nervig oder langweilig. letztlich fühlt es sich auch gar nicht an wie eine Szene. Wir sind einfach ein Haufen befreundeter Leute, die rumhängen und weil so wenig von außen kommt, machen wir eben selbst was.« Seitdem er elf oder zwölf ist, geht er auf Konzerte, macht Musik – also seit etwa 25 Jahren. Unter anderem hat er auch eine Weile mit Brandi in einer Band gespielt – Strangled hieß sie. Beide stehen Benny Blitz in nichts nach, was die Menge der verschiedenen Projekte angeht.

Zum Dasein einer Band gehört es natürlich auch, Konzerte zu geben. Die Shows machen besonders viel Spaß. Oft genug spielen die Bands in einem wild durchmischten Line-Up, wo auf den ersten Blick kein Act zum anderen passt. Das verbindende Moment ist die Tatsache, dass alle Bands aus Edmonton kommen. Am Ende passen Faith Healer mit ihrem an The Velvet Underground erinnernden Pop während der Release-Show zu ihrem Album »Try;-)« eben doch perfekt zu den Falco-meets-Talking-Heads-Quatschköpfen von Physical Copies und den no-wavigen Beauty Rest.

Die Leute aus Edmonton machen die Not zur Tugend und organisieren sich mit Verve selbst. Das zeigt sich auch, blickt man auf die Orte, an denen Live-Musik stattfindet. Die Venues reichen von Underground-Shows in den Kellern typischer nordamerikanischer Einfamilienhäuser bis zum Stadion der Edmonton Oilers, dem 2016 eröffneten Rogers Place. Während das Stadion, bespielt von Acts wie Depeche Mode und Beyoncé, definitiv kein Geheimtipp ist, muss man für die Underground-Shows selbstredend schon besser Bescheid wissen.

Entsprechend dankbar bin ich, als mich im September 2017 mein Kumpel Danny zur allerletzten Show in der Skymall einlädt, einem unscheinbar wirkenden Haus in ­familiärer Nachbarschaft, an dem ich ohne die vielen Fahrräder im Vorgarten wahrscheinlich vorbei geradelt wäre. So schmeiße ich mein Rad zu den anderen und bin Gast bei der letzten Show im Keller des von Studentinnen und Studenten bewohnten Hauses, in dem tourende Bands und lokale Acts gleichermaßen gerne spielen. In Nordamerika haben solche Veranstaltungsorte Tradition. Hier gibt es keine Altersbeschränkungen beim Einlass und Musiker müssen sich nicht mühsam um Schlafplätze kümmern – was für die DIY-Kultur in Deutschland üblich ist, dass es etwas zu essen, Drinks und Schlafplätze gibt, ist in Kanada eher nicht die Regel. Die Bands können hier aber ihre Schlafsäcke nach der Show einfach im Wohnzimmer ausrollen. Obwohl ich zum ersten Mal dabei bin, werde ich fast auch ein bisschen sentimental, als die Grunge-Jungs von Dead Fibres als letzte Band überhaupt in diesem Keller spielen.

Weil es kaum All-Ages-Venues gibt, finden Konzerte auch schon mal in mexikanischen Restaurants statt. Zu so einem Konzert fährt mich im Sommer 2017 meine Zufallsbekanntschaft Bo, ein Mittsechziger im Oldtimer, der mir auf dem Weg dorthin noch erklärt, dass sein Vater die Fenster in einer der Kirchen, an der wir vorbeifahren, eingebaut hat. An dem mexikanischen Restaurant angekommen, will er mich hineinbegleiten, weil es ihm doch ein wenig zwielichtig vorkommt. Ich lehne dankend ab und wage mich alleine in den Laden, der völlig harmlos auf der einen Seite mit einem All-You-Can-Eat-Buffet lockt, während auf der anderen Seite 15jährige in ihren selbstgemalten Circle-Jerks-T-Shirts wild tanzen.

Ein professionellerer Veranstaltungsort in Edmonton ist The Sewing Machine Factory, für die Tab C.A. das Booking macht. Tab beschreibt The Sewing Machine Factory als »Skymall mit einem cooleren Vermieter, einer Schanklizenz und mehr Platz und Equipment«. Tab wohnte einst im Chess House, einem der DIY-Häuser, wie Skymall es einst war, und ist seit ein paar Jahren in der Szene aktiv. Für Edmonton nimmt The Sewing Machine Factory, gemeinsam mit The Aviary, noch so einem quasi aus der Szene heraus betriebenen Laden, eine wichtige Rolle ein. Oft ist die Arbeit wegen der offiziellen Verwaltungsstrukturen aber gar nicht so einfach, wie Tab erklärt: »Manchmal ist es schon frustrierend, wenn ein großes Festival ohne Probleme eine Lizenz für einen All-Ages-Biergarten bekommt und ein Laden wie unserer nicht für alle Altersgruppen öffnen darf, ohne die unmöglichsten Auflagen zu befolgen.« The Sewing Machine Factory musste also kurz nach der Eröffnung im Frühjahr 2016 erst mal wieder schließen. Eine Renovierung war nötig, um die Schanklizenz zu bekommen. Dank dieser können nun auch zwei Mal im Monat All-Ages-Shows querfinanziert werden und neben tourenden Acts kann sich auch die DIY-Szene der Stadt hier austoben.

Als ich Ben frage, was ihm DIY bedeutet, antwortet er trocken: »Schulden«. Als seien diverse Bands und die Radioshow nicht genug, hat er gerade mit seinem Kumpel Rob Lawless ein Plattenlabel gegründet: This Is Pop Records. Eigentlich war die Idee bloß, zur 100. Episode seiner Radiosendung einen This-Is-Pop-Sampler mit kanadischem Power-Pop und Punk zu veröffentlichen. Inzwischen ist das Projekt ein wenig gewachsen und verschiedene Releases sind entstanden. »Auf der Compilation sind Bands aus den verschiedenen Regionen Kanadas, auch frankophone Acts sind drauf. Wir wollten eigentlich alle Provinzen und Territories repräsentieren – das ist uns nicht ganz gelungen.« Zur Halifax Pop Explo­sion, einem Festival Mitte Oktober in Halifax an der Ostküste Kanadas, soll der Sampler allerspätestens ­fertig sein. Benny Blitz und Rob Lawless werden dafür aus Edmonton fast 5 000 Kilometer in den Osten reisen, um ihr Projekt vorzustellen. Ben rechnet ganz bescheiden eigentlich nicht damit, dass die Platte sofort ein Hit wird und Profite abwirft: »Aber vielleicht findet in 20 Jahren jemand unsere Platte auf dem Flohmarkt und ist so begeistert wie ich, wenn ich heute was Gutes finde. Das würde mich freuen!«

Für Graeme von No Problem ist das etwas anders. Nicht umsonst ­eröffnen die vier Punks ihr drittes Album mit dem Song »Get the Feeling Back«: »Es geht darum, wieder reinzukommen und das wiederzufinden, was dieses ganze Punk-Ding eben ausmacht. Für mich war Musik immer ein Ausweg aus der ganzen Scheiße, die so passiert – auf einem persönlichen Level, aber ja auch gesellschaftlich.« Selbst in einem so friedlichen Land wie Kanada, mit einem Premierminister, der sich auch gerne mal in Chewbacca-Socken zeigt, gibt es genug zu meckern. Das Album von No Problem, »Let God Sort Em Out«, ist bisweilen ziemlich schonungslos.

»Ich glaube, wir haben da eine einzigartige Perspektive auf die Dinge. Klar ist alles scheiße, aber so ist eben das Leben. Daran werden wir auch nichts ändern«, sagt Graeme einigermaßen abgeklärt. »Aber natürlich sagen wir was dazu und das hat dann immerhin einen therapeutischen Effekt für uns.«

Musik ist auch ein Ausweg aus Edmonton. No Problem sind in den vergangenen Jahren viel getourt und haben die ganze Welt bereist. Zuletzt ging es nach Großbritannien und weitere Tourneen sind in Planung. Graeme beschreibt diese Möglichkeiten, die Welt zu sehen, als unheimlich bereichernd: »Es ist cool, wenn wir als ›wildlings from beyond the wall‹ auf eine mexikanische Punk-Band treffen und obwohl uns so viel unterscheidet, verbindet uns dann eben doch eine ganze Menge.«

Trotzdem, auch das Wiederkommen ist gut, denn Edmonton, oder auch »Suffocate City«, wie die Stadt auf dem ersten No-Problem-Album bezeichnet wird, ist ein besonderer Ort. Ich erzähle Graeme von Daves Witz im Sandwichladen. Er grinst und sagt: »Wir sind eher wie so ein Independent-Film. New York City ist der Big Player, eher so ein Spielberg-Blockbuster. Wir sind wie Ed Wood, wir sind ›Plan 9 from Outer Space‹. Wenn du eine fliegende Untertasse sehen willst, klau jemandem die Radkappen und los geht’s!«