In Mexiko landen Frauen, die sich gegen Gewalttäter wehren, oft im Gefängnis

Vom Opfer zur Täterin

Seite 2 – Handeln aus Notwehr

Das Gesamtbild wird von den mexikanischen Strafverfolgungsbehörden oft außer Acht gelassen. Die Frauen werden noch am Tatort verhaftet und dann ins Gefängnis überstellt. Dort können sie Monate oder Jahre ohne Gerichtsprozess bleiben, getrennt von ihren Kindern und ohne das Trauma verarbeitet zu haben. »Es ist eine Schwäche der Staatsanwälte und der Gerichtsbarkeit, dass ihre Sichtweise so verengt ist«, befindet Valdez. Auch die Pflichtverteidiger plädierten oft nicht auf Notwehr. Dem pflichtet ihr Kollege bei, der Psychologe und Therapeut Alberto Rodríguez Cervantes. Nur in den seltensten Fällen werde er von Gerichten als Gutachter berufen, um die Gewalt im Umfeld von Frauen, die ihren Angreifer töteten, zu untersuchen. Nach Ansicht der beiden Mitarbeiter vom Zentrum für Frauenrechte müssten alle Beteiligten dringend für eine Rechtssprechung mit Genderperspektive fortgebildet werden.

Das beweist auch einer der bekanntesten Fälle der vergangenen Jahre, der der 15jährigen Itzel in Mexiko-Stadt. Die Jugendliche ist zu Fuß auf dem Weg zu einer Metrostation im Süden der Hauptstadt, als sie von einem Mann überfallen wird. Er hält ihr ein Messer an den Hals, führt sie unter eine Brücke und vergewaltigt sie mehrfach, über zwei Stunden hinweg. Niemand greift ein. Schließlich gelingt es Itzel, ihrem Angreifer im Kampf das Messer zu entwinden. Sie verletzt ihn tödlich. »Es war keine Absicht, es ist einfach so passiert«, erzählt sie später der feministischen Nachrichtenagentur Cimac Noticias. Die Staatsanwaltschaft der Stadt beginnt eine Ermittlung gegen die Jugendliche wegen Mordes. Eine Ermittlung wegen Vergewaltigung wird gar nicht erst aufgenommen, »weil der Täter verstorben ist«, so die Begründung.

Die Menschenrechtsanwältin Karla Micheel Salas von der Aktionsgruppe für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit ist immer noch erzürnt, wenn sie darüber redet. Sie hebt die Arme und fängt an, an gespreizten Fingern all die Rechtsverletzungen auf­zuzählen, die Itzel erlitten hat: »Sie wurde nicht als Opfer behandelt, das Protokoll zur Behandlung von Opfern sexueller Gewalt wurde nicht beachtet, es wurde kein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren angestrengt und ihr Recht auf ein Leben ohne Gewalt wurde verletzt.« Erst nachdem der Fall in Medien publik wurde, lenkte die Staatsanwaltschaft ein. Sie erklärte, dass Itzel keine Schuld treffe, weil »ihre körper­liche Integrität und ihr Leben bedroht waren« und sie daher in Notwehr gehandelt habe.

»Unsere Staatsanwaltschaft hat wertvolle Ressourcen dafür ausgegeben, ­gegen ein Mädchen zu ermitteln, das sich verteidigt hat, während wir Hunderttausende Fälle von sexueller Gewalt haben, die absolut straflos bleiben«, erregt sich Salas.

 

Gewalt nach Geschlecht

In der Tat spiegeln viele Urteile, die nach Abschluss der Gerichtsverfahren veröffentlicht wurden, die machistische und diskriminierende Haltung der meist männlichen Richter wider. »Wenn die Frauen auf Notwehr plädieren, werden ihre Handlungen sexistisch abgewertet. Die Richter verlangen ein Maximum an Beweisen dafür, dass ihr Leben in Gefahr war, wenn nicht, zieht sich der Prozess ewig in die Länge, und es können lange Haftstrafen drohen. In der mexikanischen Rechtssprechung muss es immer einen Schuldigen oder eine Schuldige geben, und so werden die Frauen im Nu von Opfern zu Täterinnen«, analysiert Salas.

Dass es keine offiziellen Statistiken über die Zahl der Frauen gibt, die im Kontext von sexueller Gewalt einen »Mord« begangen haben, ist ihrer Ansicht nach ein weiterer Beweis dafür, dass die Justiz nicht gendersensibel ist. Die Daten des nationalen Zensus zur Rechtssprechung lassen nur erahnen, dass die Menschenrechtsanwältin recht hat. Im Jahr 2015 waren 21 Prozent der weiblichen Inhaftierten wegen Raubes oder Diebstahls angeklagt oder verurteilt, 15 Prozent wegen Körperverletzung. Bei den männlichen Inhaftierten lagen die Anteile bei 26 beziehungsweise neun Prozent. Das hieße, dass proportional deutlich mehr Frauen wegen Körperverletzung in Haft sitzen als Männer. Es könnte aber auch bedeuten, dass nur mehr Frauen deswegen verurteilt werden – so sieht es Salas. Ihrer Meinung nach müssten allerdings keine neuen Gesetze erlassen werden. Es gebe bereits Vorschriften zur Beachtung von Frauenrechten, nur müssten Richter und Anwälte sie endlich auch anwenden.

Im Kontext der allgemeinen Gewalt, die mit dem Krieg gegen die Drogenkriminalität zusammenhängt, ist auch die Gewalt gegen Frauen gestiegen. Dem nationalen Statistikamt zufolge haben zwei Drittel aller Frauen über 15 Jahren schon einmal eine Form von Gewalt erlebt. Laut UN Women wurden 2016 in Mexiko mindestens sieben Frauen pro Tag allein aufgrund ihres Geschlechts umgebracht. Obwohl die meisten Taten im direkten Umfeld der Frauen stattfinden, Ehemänner oder Ex-Freunde die Täter sind, bleiben viele ungesühnt. Jedes Jahr wieder stellt die Nichtregierungsorganisation Observatorio Ciudadano Nacional del Feminicidio (Nationale Bügerbeobachtungsstelle zu Feminizid) fest, dass in vielen Fällen keine ordentliche Spurensicherung stattfindet, der Kontext von Gewalt im Umfeld des Opfers ausgeblendet und Hinweise auf einen Mord aus Frauenhass außer Acht gelassen werden.

So haben Frauen, die in von Gewalt geprägten Beziehungen leben und deren Leben in Gefahr ist, manchmal nur noch diese Wahl: Entweder sie wehren sich und landen dafür im Gefängnis oder sie tun es nicht und werden zu einer weiteren Ziffer in der Statistik der Feminizide.