In Mexiko landen Frauen, die sich gegen Gewalttäter wehren, oft im Gefängnis

Vom Opfer zur Täterin

Frauen, die gewalttätige Männer in Notwehr verletzen oder töten, landen in Mexiko oft im Gefängnis, ohne dass die Justiz die Umstände der Tat berücksichtigt. Manche Frauen wissen nicht einmal, dass sie das Recht haben, sich vor Gericht zu verteidigen.

Ein Samstag im Spätsommer. Vor dem Frauengefängnis Nr. 1 in Chihuahua füllt sich die Straße mit Menschen, die ihre Angehörigen besuchen wollen. Der Bau ist nur eine halbe Stunde von der gleichnamigen Hauptstadt des Bundesstaates an der Grenze zu den USA entfernt. Alle 15 Minuten halten alte, blaue Busse; Mütter, Väter, Partnerinnen und Partner steigen aus. Am Haupttor werden sie von zwei Wachen, die automatische Waffen tragen, mit ­einem »Guten Morgen!« begrüßt. Geduldig warten die Besucher in der Schlange darauf, dass das Essen und die Kleidung, die sie für die Frauen in Haft mitgebracht haben, untersucht werden.

Clara bekommt keinen Besuch. Ihre zwei Töchter leben zusammen mit der Großmutter im Bundesstaat Sonora, 700 Kilometer entfernt. Sie haben kein Geld, um die mehr als zwölf Stunden lange Busfahrt auf sich zu nehmen, und halten nur telefonisch Kontakt. Seit ­einem Jahr und zwei Monaten ist Clara hier in Untersuchungshaft, kurz nach jener tragischen Nacht, in der sie ihren Lebensgefährten mit einem Messerstich tödlich verletzte. Das war das Einzige, was der Haftrichter für wichtig hielt.

»Es ist ein bisschen, als ob ich gemeinsam mit ihm gestorben wäre und als andere Person neu geboren wurde.« Azucena, erstach ihren Partner in Notwehr

Doch die Geschichte der Tat beginnt lange davor. Von Beginn an war ihre Beziehung mit Andrés von Gewalt geprägt. Beide lebten mit den zwei Töchtern im Haus von Claras Mutter in Sonora, dort betrieb sie einen kleinen Friseurladen. In dieser Zeit rief die junge Frau mehrfach die Polizei, weil Andrés sie geschlagen hatte. Doch wie viele Frauen, die im Teufelskreis einer von Gewalt geprägten Beziehung gefangen sind, ließ sie ihn jedes Mal wieder zurückkehren. Schließlich zog das Paar mit den Kindern nach Ciudad Madera, einer Stadt im Nordosten des Bundesstaates Chihuahua. Dort hatte Andrés angeblich einen Job in einer Mine bekommen.

Doch trotz der Arbeit brachte er nie Geld nach Hause, so dass Clara auf Unterstützung von ihrer Mutter angewiesen war, um Essen für die Kinder zu kaufen. Ihr Groll über die prekäre Situation und die Gewalt in der Beziehung wuchs, und sie fing an, davon zu sprechen, Chihuahua mit den beiden Töchtern zu verlassen.

Eines Abends im Jahr 2017 wiederholte sie ihre Drohung und Andrés schlug sie. Clara griff nach einem Messer und verletzte ihn zwei Mal, einer der beiden Stiche war tödlich. Sie rannte hinaus, um die Nachbarn um Hilfe zu bitten. Als der Krankenwagen und die Polizei kamen, wurde sie sofort festgenommen. Nachdem sie in das Frauengefängnis von Chihuahua überstellt worden war, erhielt sie eine Pflichtverteidigung, die sogar Zeuginnen und Zeugen benannte, die die ­Gewalt in der Beziehung zwischen Clara und Andrés bestätigten. Doch der Richter ließ die Anklage gegen Clara zu, seiner Meinung nach handelte sie »nicht verhältnismäßig«, weil sie ­Andrés zwei Stichwunden zugefügt hatte: für Notwehr sei das eine zu viel.

 

Recht auf Verteidigung

Menschenrechtsanwältinnen wie Yanimiriam Valdez Baca vom Zentrum für Frauenrechte in Chihuahua betonen, dass Frauen wie Clara zwar ein Tötungsdelikt begangen hätten, sie im mexikanischen Strafrecht aber aufgrund von Notwehr freigesprochen werden könnten. Das Problem sei, dass Notwehr vor Gericht oft schwieriger zu beweisen sei als ein Mord, deshalb machten es sich viele Staats- und Rechtsanwälte leicht.

Das beginne bei der Mandantin. Für viele Frauen sei es schwierig zu ver­stehen, dass sie ein Recht darauf haben, sich zu verteidigen. Das gilt besonders für Betroffene mit geringer Schulbildung und aus armen Verhältnissen, die in Mexiko deutlich häufiger verurteilt werden als Menschen mit Geld. Die Schuld, die die Frauen verspüren, erschwere Valdez zufolge sogar die Verteidigung, denn in Schnellverfahren erklärten sie sich für schuldig. Deshalb fordert die Anwältin, dass die betroffenen Frauen eine psychosoziale Begleitung erhalten müssen, nicht nur, weil die Ereignisse traumatisierend seien, sondern auch, weil sie aufgeklärt werden müssten, dass sie sich vertei­digen dürfen, wenn ihr Leben in Gefahr ist. »Die Tat ist geschehen. Aber es ist eine Tat, die die Frauen definitiv nicht wollten«, so die Anwältin.

Gleich nebenan, im Innenhof des Zentrums für Frauenrechte, erzählt Azucena ihre Geschichte. Sie trägt die Haare offen und zuckt öfter mit den Schultern, wenn sie redet. Als wolle auch ihr Körper unterstreichen: So ist es nun einmal geschehen, und damit muss ich leben. Für Azucena war es ein langer Prozess, den Tod ihres Lebensgefährten zu verarbeiten. Ihre Geschichte ist der Claras sehr ähnlich. Eine 16jährige Beziehung, die zwischen einvernehm­lichen Zeiten und Phasen des Missbrauchs schwankte. Zwei Töchter. Und eine verhängnisvolle Nacht, in der Azucenas Mann eifersüchtig wurde und es zu einem Kampf mit einem Messer kam. Er starb durch einen Stich in die Brust. Azucena hatte Glück, sie wurde vom Zentrum für Frauenrechte in Chihuahua rechtlich betreut. Obwohl die Staatsanwaltschaft die Tötung als Mord aus niederen Beweggründen, Heimtücke und Verrat auslegte, wurde sie nach sechs Tagen freigelassen. Das Gericht erkannte die Notwehr an, das Schuldgefühl jedoch blieb. Azucena kehrte in ihr Haus zurück, in ein kleines Dorf, dessen Einwohnerinnen und Einwohner allesamt wussten, was passiert war. Die Blicke der Nachbarinnen und Nachbarn quälten sie, und sie fragte sich verzweifelt, wie sie der Familie ihres Mannes gegenübertreten sollte. Aber mit der Zeit näherten sich einige wieder an. Sie wussten, dass der Bruder Azucena lange geschlagen hatte. Nach Monaten der psychosozialen Betreuung ist Azucena so weit, sich selbst zu verzeihen: »Alles hat sich geändert seitdem. Es ist ein bisschen, als ob ich gemeinsam mit ihm gestorben wäre und als andere Person neu geboren wurde. Sogar mein Kleidungsstil hat sich geändert. Ich danke Gott, dass er mir mehr Zeit auf dieser Erde ge­geben hat, und ich werde sie nicht verschwenden.«

Handeln aus Notwehr

Das Gesamtbild wird von den mexikanischen Strafverfolgungsbehörden oft außer Acht gelassen. Die Frauen werden noch am Tatort verhaftet und dann ins Gefängnis überstellt. Dort können sie Monate oder Jahre ohne Gerichtsprozess bleiben, getrennt von ihren Kindern und ohne das Trauma verarbeitet zu haben. »Es ist eine Schwäche der Staatsanwälte und der Gerichtsbarkeit, dass ihre Sichtweise so verengt ist«, befindet Valdez. Auch die Pflichtverteidiger plädierten oft nicht auf Notwehr. Dem pflichtet ihr Kollege bei, der Psychologe und Therapeut Alberto Rodríguez Cervantes. Nur in den seltensten Fällen werde er von Gerichten als Gutachter berufen, um die Gewalt im Umfeld von Frauen, die ihren Angreifer töteten, zu untersuchen. Nach Ansicht der beiden Mitarbeiter vom Zentrum für Frauenrechte müssten alle Beteiligten dringend für eine Rechtssprechung mit Genderperspektive fortgebildet werden.

Das beweist auch einer der bekanntesten Fälle der vergangenen Jahre, der der 15jährigen Itzel in Mexiko-Stadt. Die Jugendliche ist zu Fuß auf dem Weg zu einer Metrostation im Süden der Hauptstadt, als sie von einem Mann überfallen wird. Er hält ihr ein Messer an den Hals, führt sie unter eine Brücke und vergewaltigt sie mehrfach, über zwei Stunden hinweg. Niemand greift ein. Schließlich gelingt es Itzel, ihrem Angreifer im Kampf das Messer zu entwinden. Sie verletzt ihn tödlich. »Es war keine Absicht, es ist einfach so passiert«, erzählt sie später der feministischen Nachrichtenagentur Cimac Noticias. Die Staatsanwaltschaft der Stadt beginnt eine Ermittlung gegen die Jugendliche wegen Mordes. Eine Ermittlung wegen Vergewaltigung wird gar nicht erst aufgenommen, »weil der Täter verstorben ist«, so die Begründung.

Die Menschenrechtsanwältin Karla Micheel Salas von der Aktionsgruppe für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit ist immer noch erzürnt, wenn sie darüber redet. Sie hebt die Arme und fängt an, an gespreizten Fingern all die Rechtsverletzungen auf­zuzählen, die Itzel erlitten hat: »Sie wurde nicht als Opfer behandelt, das Protokoll zur Behandlung von Opfern sexueller Gewalt wurde nicht beachtet, es wurde kein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren angestrengt und ihr Recht auf ein Leben ohne Gewalt wurde verletzt.« Erst nachdem der Fall in Medien publik wurde, lenkte die Staatsanwaltschaft ein. Sie erklärte, dass Itzel keine Schuld treffe, weil »ihre körper­liche Integrität und ihr Leben bedroht waren« und sie daher in Notwehr gehandelt habe.

»Unsere Staatsanwaltschaft hat wertvolle Ressourcen dafür ausgegeben, ­gegen ein Mädchen zu ermitteln, das sich verteidigt hat, während wir Hunderttausende Fälle von sexueller Gewalt haben, die absolut straflos bleiben«, erregt sich Salas.

 

Gewalt nach Geschlecht

In der Tat spiegeln viele Urteile, die nach Abschluss der Gerichtsverfahren veröffentlicht wurden, die machistische und diskriminierende Haltung der meist männlichen Richter wider. »Wenn die Frauen auf Notwehr plädieren, werden ihre Handlungen sexistisch abgewertet. Die Richter verlangen ein Maximum an Beweisen dafür, dass ihr Leben in Gefahr war, wenn nicht, zieht sich der Prozess ewig in die Länge, und es können lange Haftstrafen drohen. In der mexikanischen Rechtssprechung muss es immer einen Schuldigen oder eine Schuldige geben, und so werden die Frauen im Nu von Opfern zu Täterinnen«, analysiert Salas.

Dass es keine offiziellen Statistiken über die Zahl der Frauen gibt, die im Kontext von sexueller Gewalt einen »Mord« begangen haben, ist ihrer Ansicht nach ein weiterer Beweis dafür, dass die Justiz nicht gendersensibel ist. Die Daten des nationalen Zensus zur Rechtssprechung lassen nur erahnen, dass die Menschenrechtsanwältin recht hat. Im Jahr 2015 waren 21 Prozent der weiblichen Inhaftierten wegen Raubes oder Diebstahls angeklagt oder verurteilt, 15 Prozent wegen Körperverletzung. Bei den männlichen Inhaftierten lagen die Anteile bei 26 beziehungsweise neun Prozent. Das hieße, dass proportional deutlich mehr Frauen wegen Körperverletzung in Haft sitzen als Männer. Es könnte aber auch bedeuten, dass nur mehr Frauen deswegen verurteilt werden – so sieht es Salas. Ihrer Meinung nach müssten allerdings keine neuen Gesetze erlassen werden. Es gebe bereits Vorschriften zur Beachtung von Frauenrechten, nur müssten Richter und Anwälte sie endlich auch anwenden.

Im Kontext der allgemeinen Gewalt, die mit dem Krieg gegen die Drogenkriminalität zusammenhängt, ist auch die Gewalt gegen Frauen gestiegen. Dem nationalen Statistikamt zufolge haben zwei Drittel aller Frauen über 15 Jahren schon einmal eine Form von Gewalt erlebt. Laut UN Women wurden 2016 in Mexiko mindestens sieben Frauen pro Tag allein aufgrund ihres Geschlechts umgebracht. Obwohl die meisten Taten im direkten Umfeld der Frauen stattfinden, Ehemänner oder Ex-Freunde die Täter sind, bleiben viele ungesühnt. Jedes Jahr wieder stellt die Nichtregierungsorganisation Observatorio Ciudadano Nacional del Feminicidio (Nationale Bügerbeobachtungsstelle zu Feminizid) fest, dass in vielen Fällen keine ordentliche Spurensicherung stattfindet, der Kontext von Gewalt im Umfeld des Opfers ausgeblendet und Hinweise auf einen Mord aus Frauenhass außer Acht gelassen werden.

So haben Frauen, die in von Gewalt geprägten Beziehungen leben und deren Leben in Gefahr ist, manchmal nur noch diese Wahl: Entweder sie wehren sich und landen dafür im Gefängnis oder sie tun es nicht und werden zu einer weiteren Ziffer in der Statistik der Feminizide.