Itamar Mann, Jurist, über Flüchtlingsabwehr und internationales Recht

»Jeder verfügt über das ›Recht auf Leben‹«

Itamar Mann lehrt Internationales Recht an der Universität von Haifa und ist Mitglied der Organisation Global Legal Action Network (GLAN). 2016 erschien bei Cambridge University Press sein Buch »Humanity at Sea: Maritime Migration and the Foundations of International Law«.
Interview Von

Vergangene Woche hat mit der »Aquarius 2« das letzte private Rettungsboot, das noch auf dem Mittelmeer unterwegs war, seine Zulassung verloren. Die italienische Regierung soll dafür verantwortlich sein, dass Panama, unter dessen Flagge die »Aquarius« fuhr, dem Schiff die Lizenz entzogen hat. Wie fügt sich dieses Ereignis in den Zusammenhang der Entwicklung europäischer Asyl- und Migrationspolitik ein?
Dieser jüngste Vorfall spiegelt die Intensität wider, mit der die italienische Regierung Solidarität auf dem Mittelmeer verhindern will. Nehmen wir einmal an, dass Italien, wie zum Beispiel »Ärzte ohne Grenzen« berichtet, Panama wirklich dazu gedrängt habe, der »Aquarius« ihre Zulassung zu entziehen. Dann sehen wir, wie zwischenstaatliche Verhandlungen dazu benutzt werden, Menschen daran zu hindern, Schutz zu suchen. Dieser letzte Schritt ist an sich nicht neu. Er fügt sich in eine Reihe von Ereignissen ein. Denken wir nur an die drastischen Maßnahmen, die gegen die Crew der »Iuventa« ergriffen wurden und gegen tunesische Fischer, die dafür hatftbar gemacht werden sollten, dass sie Flüchtlingen das Leben gerettet haben (die Fischer wurden am vorvergangenen Samstag in Agrigento, Italien, aus der Untersuchungshaft entlassen, Anm. d. Red.). Dies alles geschieht, um Menschen daran zu hindern, jene Verantwortung zu übernehmen, die europäische Regierungen längst nicht mehr auf sich nehmen wollen.

Im Mai haben Sie beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gemeinsam mit dem Global Legal Action Network (GLAN) und anderen Organisationen eine Klage gegen die italienische Regierung eingereicht. Darin geht es um sogenannte Pullbacks, vor allem um die Rückführung von Bootsflüchtlingen nach Libyen durch die libysche Küstenwache. Was hat die italienische Regierung damit zu tun?
In unserer Klage gehen wir davon aus, dass es eine italienische Verantwortung gibt. Aus unserer Sicht war die italienische Regierung maßgeblich an der Etablierung jener Organisation beteiligt, die als »libysche Küstenwache« bezeichnet wird, und unterstützt diese auch finanziell.

Der Vorfall, auf den wir uns beziehen, ereignete sich am 6. November 2017. An diesem Tag haben die italienischen Behörden, namentlich das italienische Maritime Rescue Coordination Center (MRRC), der libyschen Küstenwache Instruktionen erteilt, die dazu geführt haben, dass die libyschen Ordnungskräfte das betreffende Migrantenboot abgefangen haben. Im Zuge dieses Vorfalls sind 20 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Die Küstenwache hat die Überlebenden zurück nach Libyen gebracht. Dort waren sie schrecklichen Haftbedingungen ausgesetzt. Sie wurden ausgepeitscht und es bestand das Risiko, dass sie als Sklaven verkauft würden. Den italienischen Behörden war von vornherein klar, dass es zu Menschenrechtsverletzungen kommen könnte, wenn die Küstenwache die Migranten nach Libyen zurückbringt. Deshalb meinen wir, dass Italien in diesem Fall zur Verantwortung zu ziehen ist.

Obwohl der Vorfall sich nicht auf dem Territorium der Europäischen Union ereignete?
Die europäische Menschenrechtskonvention, auf die wir uns in unserer Klage beziehen, kann auch dann zur Anwendung kommen, wenn ein Mitglied der EU außerhalb des Territoriums der Union agiert. Eine extraterritoriale Verantwortung eines Mitgliedsstaats liegt dann vor, wenn das Überleben der betreffenden Menschen vom Agieren dieses Staats abhängt – auch wenn diese Menschen sich nicht auf EU-Territorium befinden.

»Nicht nur die spektakuläre Form von Gewalt, die Diktatoren ausüben, sondern auch die strukturelle Gewalt, die sich aus der ungleichen globalen Verteilung von Ressourcen ergibt, ist zu berücksichtigen.«

Gibt es dazu bereits ein Urteil?
Der entsprechende Präzedenzfall ereignete sich 2009, als die italienischen Behörden ein von Libyen aus kommendes Boot abgefangen und direkt zurück an die libysche Küste gebracht haben. Auch in diesem Fall waren die betroffenen Migranten einer menschenunwürdigen Behandlung durch die libyschen Behörden ausgesetzt. 2012 entschied der EGMR, dass die Rückführung der Migranten durch die italienischen Behörden illegal gewesen sei (das Gericht verurteilte Italien zu einer Schadenersatzzahlung von 330 000 Euro an die Betroffenen, Anm. d. Red.). Obwohl der Vorfall sich nicht auf europäischem Territorium ereignete, standen die betroffenen Migranten dem Gericht zufolge unter italienischer Hoheitsgewalt. Eine extraterritoriale Verantwortung für das Leben von Migranten auf hoher See kann nämlich nicht nur de jure, sondern auch de facto bestehen. Mit de jure ist gemeint, dass das betreffende Boot unter der Flagge des außerhalb seines Territoriums agierenden Staats segelt, mit de facto, dass der betreffende Staat faktisch Kontrolle über die betroffenen Personen ausübt. In unserer Klage argumentieren wir, dass auch die Migranten, die am 6. November 2017 im Mittelmeer ertranken oder nach Libyen zurückgebracht wurden, de facto unter italienischer Hoheitsgewalt standen.

Mit Bezug auf das Mittelmeer sprechen Juristinnen und Juristen aber auch von Bereichen, die rechtlich als »schwarze Löcher« zu betrachten sind.
Wenn Menschen, die das Mittelmeer zu überqueren versuchen, sich nicht in der Rettungszone irgendeines Staats befinden und kein anderes Schiff zur Kenntnis nimmt, dass sie ertrinken, gibt es tatsächlich die Möglichkeit, dass sie sterben, ohne dass irgendjemand ihre Rechte verletzt hätte. Jeder verfügt über das »Recht auf Leben«. Juristisch betrachtet impliziert das Recht auf Leben aber notwendigerweise, dass jemand anderes die Pflicht hat, dieses Leben zu schützen. Wenn Migranten sich auf dem Mittelmeer in einer Zone bewegen, innerhalb derer niemand die Pflicht hat, sie zu retten, sind sie insofern rechtlos, als die existierenden Gesetze ihr Recht auf Leben nicht schützen. Diese Art der Rechtlosigkeit entsteht durch das politische Handeln von Regierungen, zum Beispiel durch die Kriminalisierung der zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer.

Sie unterstützen auch eine im Februar vergangenen Jahres beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag eingegangene Strafbeschwerde gegen die australische Regierung. Worum geht es in diesem Fall?
Australien hat auf den Inseln Nauru und Papua-Neuguinea ein System der Offshore-Inhaftierung von Migranten und Flüchtlingen etabliert. Man nennt dieses System, das verschiedene europäische Akteure seit über 15 Jahren auf ähnliche Weise zu realisieren versuchen, auch die »pazifische Lösung«. Die Idee ist, dass Bootsflüchtlinge, die in Australien Schutz suchen, gar nicht mehr auf australisches Territorium gelangen. Stattdessen lässt man sie auf diesen pazifischen Inseln warten, wo auch ihre Asylanträge bearbeitet werden. Nur jene Menschen, die nach einer langen Zeit als Flüchtlinge anerkannt werden, haben eine Chance auf Asyl – allerdings nicht in Australien, sondern in einem Land, das mit Australien kooperiert, zum Beispiel in Kambodscha.

Warum ist dieses System Ihrer Ansicht nach ein Fall für einen internationalen Untersuchungsrichter?
Weil Australien für die menschenunwürdige Behandlung der Migranten verantwortlich ist, die auf den Inseln interniert sind. Die Lebensbedingungen, die auf den Inseln herrschen, sind mit Folter vergleichbar. Die lange Isolation macht die Menschen, die dort interniert sind, psychisch krank. Indizien dafür sind die hohe Selbstverletzungsrate und die enorme Zahl an Selbstmordversuchen auf den Inseln. Die Zustände auf den Inseln sind schrecklich. Sie sind gemacht, um Migranten abzuschrecken und ihnen zu sagen: Seht euch an, was mit den Leuten passiert, die an unser Ufer zu kommen versuchen – wenn ihr euch dafür entscheidet, unsere Küste anzusteuern, werdet ihr das gleiche Schicksal erleiden. Hier lässt man Menschen nicht nur leiden. Man instrumentalisiert ihr Leid auch, um anderen Menschen eine Botschaft zu senden.

Unserer Ansicht nach begeht Australien auf Nauru und der zu Papua-Neuguinea gehörenden Insel Manus das, was Artikel 7 des Römischen Statuts (vertragliche Grundlage des IStGH, 2002 in Kraft getreten, Anm. d. Red.) als »Verbrechen gegen die Menschheit« bezeichnet. Das Land vollzieht einen ausgedehnten, systematischen Angriff auf die zivile Bevölkerung, indem es den Migranten völkerrechtswidrig ihre Freiheit entzieht.

Internationale Strafrichterinnen und Strafrichter haben sich bislang nicht mit der Abwehr von Asylsuchenden durch Industrienationen befasst. Das Gericht bearbeitete Fälle wie den gegen den ehemaligen kongolesischen Milizenführer Thomas Lubanga, den es wegen der Rekrutierung von Kindersoldaten verurteilte. Warum sollte sich der IStGH mit einem Fall wie dem australischen befassen?
Der Text des Römischen Statuts sagt uns, welche Verbrechen durch internationale Strafrichter verfolgt werden sollten. Der Präambel zufolge handelt es sich um »Verbrechen, welche die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren«. Das ist offensichtlich eine sehr vage Formulierung. Welche Verbrechen betreffen die internationale Gemeinschaft als Ganzes? Ich denke, die grundsätzliche Frage, die wir uns stellen müssen, ist, welche Verbrechen Menschen auf systematische Weise so behandeln, wie kein Mensch jemals behandelt werden sollte. Das ist die Frage nach der Schwere des Verbrechens. Wann ist ein Verbrechen so schwerwiegend, dass internationale Strafrichter es untersuchen sollten? Unsere Antwort ist, dass nicht nur die spektakuläre Form von Gewalt, die Diktatoren ausüben, sondern auch die strukturelle Gewalt, die sich aus der extrem ungleichen globalen Verteilung von Ressourcen ergibt, zu berücksichtigen ist. Wenn nur die spektakulären Verbrechen verfolgt werden, führt das dazu, dass nur Personen aus ökonomisch relativ schwachen Länder im Blickfeld der Strafrichter stehen. Wenn wir das internationale Strafrecht inklusiver und universeller gestalten wollen, müssen wir berücksichtigen, dass die weltweite soziale Ungleichheit Situationen geschaffen hat, in denen Menschen systematisch einem menschenunwürdigen Schicksal ausgesetzt sind.