Man sollte das Werk von Bertolt Brecht nicht mit seinen Gesundheitsproblemen in Verbindung bringen

Gebrechlicher Brecht

Stephen Parker zeichnet in seiner Biographie von Bertolt Brecht einen sexhungrigen und von seiner ­angeschlagenen Gesundheit getriebenen Dramatiker – und nivelliert so den politischen Gehalt von Brechts Werk.

Als die »endgültige Darstellung von Bertolt Brechts Leben und Werk« kündigte der Suhrkamp-Verlag die neue Biographie an. Verfasst hat dieses nicht gerade zurückhaltend beworbene, mit Anhang knapp über 1 000 Seiten umfassende Werk der englische Germanist Stephen Parker. Auf dem Umschlag steht in roten Lettern schlicht »Brecht«, im Hintergrund ein Bild des jungen Dichters ohne Brille mit offenem, fast fragendem Gesichtsausdruck.

Parker hatte sich nach eigener Aussage vorgenommen, das kanonische Brecht-Bild in Frage zu stellen. Kritiker und Biographen hätten bisher Brechts Leben nicht angemessen erfassen können, weil sie seinem »körperlichen Dilemma« keine Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Um dieses abbilden zu können, hat Parker außerordentlich viel Material zusammengetragen und Korrespondenzen und Erinnerungen von Zeitgenossen, aber auch Selbstzeugnisse Brechts ausgewertet.

Das körperliche Dilemma besteht zunächst in der schwachen Physis Brechts. Mittels zahlreicher Krankenakten kann Parker die Auswirkungen eines lebenslangen Herz- und Nierenleidens sowie verschiedener weiterer, meist chronischer Erkrankungen zeigen. Dass Brechts schwacher Körper auch Auswirkungen auf sein Werk hatte, dass die somatische Erfahrung von Schwäche und Gefährdung auch Eingang in die künstlerische Produktion gefunden hat, kann Parker schlüssig darlegen. Unergiebig wird seine Methode aber dann, wenn er das Körperliche an die Stelle des Geistigen setzt und so den widersprüchlichen Zusammenhang beider Momente einseitig aufzulösen trachtet.

Parker interessiert sich wenig für Widersprüche. Das wird dann geradezu unplausibel, wenn er Brechts Mangel an systematischem Denken mit der Erfahrung der Welt durch einen »deutlich funktions­gestörten Organismus« erklärt.

Parker interessiert sich wenig für Wechselwirkungen und Widersprüche, er betrachtet die Sache positivistisch. Das wird dann geradezu unplausibel, wenn er unmittelbare Auswirkungen körperlicher Leiden auf literarische Produkte nachzuweisen versucht oder Brechts Mangel an systematischem Denken mit der Erfahrung der Welt durch ­einen »deutlich funktionsgestörten Organismus« erklärt.

Die durch den Körper verursachte Unlust bedeutet aber nicht die Un­fähigkeit zur Lust. Parker verwendet viel Energie und zahlreiche Seiten darauf, Brechts sexuelle Beziehungen darzustellen. Der junge Dichter wird zum Beispiel als »machtbesessen und gierig nach sexuellen Eroberungen« dargestellt, des öfteren wird er von Parker auch als »Macho-Mann« charakterisiert, ohne dass ausgeführt würde, welche Kriterien ein solches Urteil begründen würden.

Auch Brechts Lebens- und Welthunger tut Parker einfach als »Macho-Attitüde« ab. Wer mehr will, als ihm zugeteilt wurde oder nach Meinung der gesellschaftlichen Autoritäten eben zusteht, wer also gegen die Konven­tionen verstößt, scheint ihm verdächtig. So schlägt sich der Biograph letztlich auf die Seite der konser­vativen Augsburger Familienväter, die ihre Töchter vor dem jungen aufmüpfigen Dichter und dessen verderblichem Einfluss beschützen wollten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Parker Brechts aufsässiges Verhalten insgeheim missbilligt. Wer bei aller damals herrschenden Repression der Sexualität Brecht seine lockere Sexualmoral vorwirft, schlägt sich letztlich auf die Seite der herrschenden Ordnung seiner Zeitgenossen. Sex erscheint beim Biographen Parker nie als erfahrenes sexuelles Glück, sondern nur als Beweis von Männlichkeit oder Ausübung von Kontrolle.

 

Was aber soll der Dichter Brecht für ein Mensch gewesen sein? Selbstsüchtig, stimmungsschwankend, »auf krankhafte Weise von seinem körperlichen Befinden besessen«, obsessiv, kontrollsüchtig, streitsüchtig – all das kann man bei Parker lesen. Ist aber mit diesen psychologischen Charakterisierungen tatsächlich etwas erklärt? Zu welchen eigenartigen Konsequenzen eine Betrachtungsweise führt, die das psychologische Moment als das alleinursächliche nimmt, zeigt sich an folgender Stelle: Als Brecht in dem Münchner Seminar von Artur Kutscher den jungen expressionistischen Schriftsteller Hanns Johst scharf angreift, ist das für Parker vor allem ein Beweis für Brechts Karrierismus. Parker bemängelt, dass Brechts frühe Kritik an Johst »alle Regeln akademischer Gepflogenheiten missachtete«, diagnostiziert dann »ein von sich selbst besessenes Spiel mit dem Feuer, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen«, getrieben von »ungedecktem Ehrgeiz«. Sachliche Gründe für die Auseinandersetzung lässt Parker zunächst unerwähnt, obwohl er zwei Seiten später sogar aus einem Brief Brechts zitiert, in dem es heißt: »Johst ist ein Völkischer, da wird es heiß hergehen«. Johst wurde später Mitglied im Kampfbund für deutsche Kultur, in der NSDAP, der Waffen-SS und Präsident der Reichsschrifttumskammer. Man müsste doch dann konsequenterweise so argumentieren, dass Brecht bei der Wahl derer, die er als seiner Karriere im Wege stehend betrachtete, den richtigen politischen Instinkt bewiesen hat.

Die politischen Dimensionen von Brechts Leben und Werk darzulegen, damit tut sich Parker überhaupt sichtlich schwer. »Marxismus interessierte Brecht als ein Zweig der Soziologie« ist da beispielsweise zu lesen. Schlimmer kann man über Brecht wohl kaum urteilen, der solche akademische Schubladenden­kerei schlechthin ablehnte. Bei den Werkinterpretationen verfährt der Biopraph oft ähnlich. So bezeichnet er »Das Leben des Galilei« als »großartige Kontemplation« auf Brechts »eigenes Schicksal«; dass sich das Stück aber mitnichten in der biographischen Dimension erschöpft, führt er überhaupt nicht aus. Substantielles über die Werke ist so nicht zu erfahren. Das Problem ist, dass Parkers vielversprechender Ansatz stets von der einen Sackgasse in die nächste führt. Wer nur gegen das Bild von Brecht als Rationalist und Marxist argumentiert, sieht zwar die darin nicht aufgehenden Momente sehr deutlich, aber eben nicht das Gesamtbild. So gibt Parkers Biographie zu denken, über die Biographik im Allgemeinen und die Brechts im Speziellen.

Über die biographische Wahrheit sagte Sigmund Freud einmal, dass sie nicht zu haben sei. Das ist bei Parker nicht anders. Sind die physischen und psychischen Pathologien Brechts denn die biographische Wahrheit? Und was ist dann mit all jenen Momenten, die nicht durch Krankenakten und ähnliches gedeckt sind? Je mehr man sich ins Biographische vertieft, desto mehr entfernt man sich von dessen Wahrheit. Je mehr also Parker versucht, den »ganzen Brecht« aus dem »persönlichen Brecht« zu erklären, desto weniger versteht man von Brecht und seinem Werk. Übrig bleibt ein schrulliger Einzelfall. Hinzu kommt im Speziellen, dass der »Kreuzzug gegen Brecht« (André Müller sen.) in den letzten Jahren kaum mehr auf der politischen Ebene stattfand, sondern vor allem auf der biographischen. Brecht als moralisch untragbaren Charakter darzustellen – wie vor allem von John Fuegi betrieben –, hat sich als effektiv erwiesen. Die Auswirkungen davon merkt man noch bei Parker, wenn er Brecht an den Maßstäben der eigenen neoviktorianischen Sexualmoral misst und durchfallen lässt.

Wenn Parker sich einmal anerkennend über Brecht äußert, dann in solch verräterischen Formulierungen wie der des »großen« und »explosiven« Querdenkers. Das sind Etikettierungen, die in ihrer Phrasenhaftigkeit sicherstellen sollen, dass man Brecht als scheinbar besonders exotisches Exemplar der Gattung Mensch irgendwie schon toleriert, aber jeden Geltungsanspruch seiner offenbar ja sehr verqueren Gedanken zurückweist. Offensichtlich wird, dass die Auseinandersetzung um Brecht noch lange nicht beendet ist. Das Gegenteil von Parkers allzu sehr der positivistischen Psychologie verhafteten Biographie sind beispielsweise die kenntnis- wie erkenntnisreichen Aufsätze des Brecht-Forschers Jost Hermand. Der urteilte schon vor Jahren, dass »Brecht nur noch ein Objekt der heutigen, aus Profitgründen auf gewinnträchtige Skandale und Sensatiönchen eingespielten Kulturindustrie« sei. Die Wahrheit über Brecht liegt eben vor allem in dem, was Brecht anstrebte und was im kulturindustriellen Spektakel zumeist untergeht: die »Bewohnbarmachung der Erde«. Und die steht auch 120 Jahre nach Brechts Geburt noch aus.

 

Stephen Parker: Bertolt Brecht. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller. Suhrkamp, ­Berlin 2018. 1030 Seiten, 58 Euro.