Ein Jahr »MeToo«

It’s not about sex, baby

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Aufrichtige Liberale erkannten dagegen in der Weigerung von Frauen, permanentes Sexobjekt männlicher Begehrlichkeiten zu sein, beziehungsweise in der Art, wie sie diese Wei­gerung zum Ausdruck bringen, eine Form von »Neopuritanismus«, der kurz davor sei, den aufgeklärten und freiheitlichen Westen ins viktorianische Zeitalter zurückzukatapultieren: »Totalitären Feminismus« nannte es der Journalist Jens Jessen in der Zeit im April; erst vor einigen Wochen war im US-Magazin Spectator vom Zeitalter des »sexuellen McCarthyismus« die Rede. Auch hier: Eine vielleicht gut gemeinte Kritik, besonders dann, wenn sie von Frauen wie der französischen Schauspielerin Catherine Deneuve kommt. Sie gehörte zu den prominenten Unterzeichnerinnen eines offenen Briefs in Le Monde, in dem das »Recht zu beläs­tigen« als »unerlässlich für die sexuelle Freiheit« erklärt wurde. Viel wurde Deneuve, auch hierzulande, für ihre Aussage, der »MeToo«-Feminismus trage die Züge von »Hass gegen Männer und die Sexualität«, gefeiert, als hätte sie es heldenhaft gewagt, sich einer neuen drohenden, allerdings nur imaginierten Sexualordnung entgegenzustellen. Nur eine Woche später sah sich die grande dame des französischen Kinos gezwungen, sich bei Opfern von sexueller Gewalt für die im Brief enthaltenen relativierenden Vergleiche öffentlich zu entschuldigen.

Deneuve und ihre Kolleginnen kamen ohnehin zu spät. Die »Metoo«-Debatte hatte zu diesem Zeitpunkt auf­gehört, ein »Frauenthema« zu sein. Sie hatte an Komplexität und immer größerer politischer sowie gesellschaftlicher Relevanz gewonnen. Sie war eine Debatte geworden, in der es nicht mehr um Sex ging – von Anfang an ging es eigentlich um Machtverhältnisse und deren Missbrauch, aber es dauerte lange, bis sich der Fokus von der Sexualsphäre auf andere Themen richtete.

Als aus einem Hashtag eine Gelegenheit wurde, die Normen des Zusammenlebens neu zu verhandeln, entpuppten sich der Henxenjagd- und der Puritanismusvorwurf immer mehr als Versuche, eine gerade entstehende Bewegung zu diskreditieren.

»MeToo« war eine Debatte über sexuelle Gewalt, die zum ersten Mal weltweit stattgefunden hat. Selbstverständlich kann man sie materialistisch an ihren Ergebnissen messen – vorausgesetzt, man tut es nicht, um »den Feminismus« zu diskreditieren.

Ein Hashtag kann und soll keine Menschen verhaften. Über ein System, das sexuelle Gewalt hervorbringt und über den strukturellen Sexismus, der diese Gewalt möglich macht, muss diskutiert werden. Sexismus strukturell zu nennen, bedeutet nicht, dass an ­jeder Ecke böse Männer lauerten, die nichts anderes im Sinne haben, als Frauen anzugreifen. Es bedeutet nicht, dass in jedem Büro ein Chef oder ein Kollege säße, der ständig sexistische Sprüche macht. Struktureller Sexismus ist es aber, wenn eine Frau wie Christine Blasey Ford sich aufgrund von Morddrohungen nicht mehr traut, ihr eigenes Zuhause zu betreten, während der Mann, dem sie eine versuchte Vergewaltigung vor über 30 Jahren vorwirft, zum Richter am Obersten Gerichtshof ernannt wird. Oder wenn der Fußballverein Juventus Turin die Vergewaltigungsvorwürfe gegen Cristiano Ronaldo wie folgt kommentiert: »Die Dinge, die sich vor fast zehn Jahren angeblich ereignet haben sollen, ändern nichts an dieser Meinung, die jeder teilt, der jemals Kontakt zu diesem großartigen Champion hatte.« Eine gemeinsame Sprache suchen, die es ermöglicht, auch über nicht strafrechtlich relevante Fälle zu sprechen, bedeutet nicht, Männer zu hassen, es bedeutet, eine bessere Gesellschaft anzustreben.

Nicht nur Rechte und Liberale kritisierten die »MeToo«-Kampagne, sondern auch manche Linke. Abgesehen von der etwas bornierten Ablehnung, die manche durchaus feministisch sozialisierten Genossinnen und Genossen an den Tag legten – nach dem Motto: »Was soll eine von US-Schauspielerinnen initiierte mediale Kampagne denn bringen, für den Feminismus wird auf der Straße gekämpft« – gab es tatsächlich einen Punkt, an dem eine konstruktive Debatte von links nicht geschadet hätte, nämlich die Gefahr, dass im Zuge einer solchen Kampagne der Opfer­status der Betroffenen identitätsstiftend wirkt: Wie artikuliert man Solidarität mit den Betroffenen, ohne sie auf die Opferrolle festzunageln?

Leider wurde, vor allem in sozialen Medien, häufig nur dann diskutiert, wenn es darum ging, den »falschen« Feminismus der anderen vorzuführen. Man spaltete sich in ein Pro- und einem Kontra-»MeToo«-Lager, oft wurde wenig argumentiert und viel psychologisiert – auf beiden Seiten. Einigen Männern, die sich an der Debatte beteiligten, wurde viel zu schnell unterstellt, unreflektierte Sexisten oder gar »Täter« zu sein; auf der ­anderen Seite wurde propagiert, »Metoo« sei bloß ­verkürzte Patriarchatskritik. Wäre die Debatte weniger von Abwehrreaktionen geprägt gewesen, wäre es vielleicht möglich gewesen, den Feminismus, der ja noch nie eine monolithische Einheit war, zu bereichern.

Die Weigerung, subjektive Erfahrungen von Diskriminierung, Belästigung und Gewalt als Teil einer gesellschaftlichen und politischen Debatte anzuerkennen, ist Teil des Problems, das »MeToo« sichtbar gemacht hat.

»MeToo« war eine Debatte über sexuelle Gewalt, die zum ersten Mal weltweit stattgefunden hat. Selbstverständlich kann man sie materialistisch an ihren Ergebnissen messen – vorausgesetzt, man tut es nicht, um »den Feminismus« zu diskreditieren.

Viel interessanter ist, was »MeToo« dort bewirkt hat, wo es nicht messbar ist – im Privaten wie im Öffentlichen. Etwa, wie sie sich auf die jüngeren Generationen auswirken wird. Vielleicht wird es für junge Männer und Frauen dank »MeToo« leichter zu begreifen sein, dass es nicht um einen Krieg der Geschlechter geht, sondern darum, in welcher Gesellschaft wir leben möchten.