Ein Jahr nach dem Referendum in Katalonien

Schwierige Trennung

Ein Jahr nach dem von der spanischen Regierung für illegal erklärten Referendum in Katalonien über die Abspaltung der Region sind die politischen Fronten weiterhin verhärtet. Befürworter und Gegner einer katalanischen Unabhängigkeit finden sich in allen Bevölkerungsgruppen Kataloniens.
Reportage Von

Joan*, ein Ingenieur aus Barcelona, erinnert sich an den 1. Oktober 2017: »Mehr als zwei Millionen Katalanen und Katalaninnen forderten trotz der Angst ihre demokratischen Rechte ein.« Die Polizeigewalt habe für viele Menschen zum endgültigen Bruch mit Spanien geführt, so der Befürworter der katalanischen Unabhängigkeit. Auch wenn die Meinungen zur Unabhä­ngigkeit auseinandergehen, sehen viele Menschen in Katalonien in der Abstimmung von 2017 ein historisches Ereignis.
Nach dem bewegten Herbst 2017 und den von der spanischen Regierung auferlegten Wahlen erfolgte in Katalonien ein Regierungswechsel. Kurz darauf musste die korruptionsgebeutelte konservative Regierung in Madrid gehen. Mit den Sozialisten (PSOE) an der Regierung schien sich die Lage in Katalonien zu beruhigen. Aber der Schein trog: Zum Jahrestag des umstrittenen Referendums am 1. Oktober 2017 kam es ­erneut zu Großdemonstrationen in ­Katalonien. Die Demonstrierenden forderten Freiheit für die »politischen ­Gefangenen« und die tatsächliche Ausrufung der Katalanischen Republik, die vergangenen Herbst vom katalanischen Parlament symbolisch proklamiert worden war.

Sasha ist Argentinier und lebt seit 1994 in Barcelona. Er stimmte vor einem Jahr mit einem leeren Wahlzettel ab. Er sei gegen die Unabhängigkeit, unterstütze aber die Mitbestimmung der Bürger im öffentlichen Leben, sagt er. Zudem wollte er ein Zeichen setzen: »Ich wollte die Schwäche der spanischen Regierung bloßstellen und der Welt zeigen, dass die große Mehrheit in Katalonien abstimmen will.«

»Der vergangene Herbst war ein guter Moment, um eine Veränderung herbeizuführen. Inzwischen bin ich mir nicht sicher, dass das mit der Unabhängigkeit klappt.« Clara, Studentin

Der junge Jurist Nil Lopez aus Barcelona konnte sich mit der Kampagne für den 1. Oktober vergangenen Jahres überhaupt nicht identifizieren. Leider habe der damalige spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy mit dem Polizeieinsatz versagt, so Lopez: »Meine Empörung über die Polizeigewalt war riesig. War das nötig?«

 

Warten auf die Republik

Die Polizeigewalt während der Abstimmung, die ungelöste Frage der Un­abhängigkeit und die harte juristische Verfolgung katalanischer Politiker und Separatisten haben ihre Spuren hinterlassen. Viele Katalaninnen und Kata­lanen sind enttäuscht von der Politik. Nach dem Ende der Zwangsverwaltung durch die Zentralregierung versuchen die separatistischen Parteien zurzeit, die Handlungsfähigkeit der katalanischen Regionalregierung zu erhöhen. Diese steht unter dem Druck der Wählerinnen und Wähler.
Sasha denkt, dass die Unabhängigkeitsbewegung derzeit weiter von ­ihrem Ziel entfernt sei als zuvor: »Vor allem, weil es keine Strategie seitens der katalanischen Politiker gab, sie haben improvisiert. Das ist vielen Menschen erst jetzt bekannt. Viele Unabhängigkeitsbefürworter haben an die ­Republik ­geglaubt.« Mit dieser Meinung steht er nicht allein; viele glauben zudem, dass die separatistischen Politikerinnen und Politiker zu sehr auf internationale Unterstützung gehofft hätten. Clara, eine 21jährige Philologiestudentin, die sich vergangenen Herbst für die Unabhängigkeit einsetzte, ist sehr enttäuscht: »Der vergangene Herbst war ein guter Moment, um eine Veränderung herbeizuführen, die Menschen waren mobilisiert. Aber so eine Mobilisierung ist nicht lange aufrecht zu ­erhalten. Inzwischen bin ich mir nicht sicher, dass das mit der Unabhängigkeit klappt.«

Nach den Regionalwahlen im Dezember, bei denen der separatistische Block erneut die parlamentarische Mehrheit erlangte und Carles Puigdemonts Fraktion mit dem Slogan »Puigdemont, unser Präsident« viele Stimmen erhielt, brauchte es vier Anläufe, bis ein neuer Präsident vereidigt werden konnte. Spaniens Justiz ließ einige Kandidaten, darunter Puigdemont, nicht zu. Schließlich bekam Joaquim Torra das Amt. Die Katalanische Nationalversammlung (ANC), auf die die größten separatistischen Mobilisierungen, vor allem zum Nationalfeiertag am 11. September, zurückgehen, hat der katalanischen Regierung nun ein Ultimatum gestellt: Sie verlangt von den katalanischen Institutionen und Parteien eine gemeinsame Strategie, um die Republik zu gründen. Politiker, denen die »Ausübung des friedlichen Widerstands« gegen die spanische Regierung zu viel sei, sollten zurücktreten, so die ANC.

Meritxell*, eine junge Mutter, die sich in einem der zahlreichen Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR) betätigt, versteht die Angst der Politiker vor der staatlichen Repression. Deshalb sei der Zusammenhalt wichtig, schließlich seien auch zahlreiche ­Bürger von der juristischen Verfolgung betroffen, sagt sie. Vor allem aber verlangt sie Klarheit: »Man sagte uns, dass man mit den Gesetzen und dem Referendum eine Republik umsetzen würde. Der jetzige Diskurs hat damit nichts zu tun.« Torra komme zumindest nicht aus der Politik und sei deshalb näher an den Bürgern. »Aber auch ihm sind die Hände gebunden«, sagt sie mit Blick auf die Drohungen der spanischen Konservativen, erneut für eine Zwangsverwaltung zu votieren.

Am 1. Oktober rief Torra die Komitees zur Verteidigung der Republik dazu auf, den Druck auf Spanien aufrechtzuerhalten. Diese Komitees gehören zu den Gruppen, die am vehementesten die Unabhängigkeit von Spanien fordern. Das Verhältnis zu Torra ist allerdings schwierig, CDR in Barcelona wiesen Torras Aufforderung zurück. Jordi S., ein Herr in den Siebzigern, der zu Francos Zeiten in die USA flüchtete, ist Mitglied in zwei solchen Komitees. »Die Politik ist nicht auf Augenhöhe mit der Bevölkerung. Die CDR folgen auch keinen Befehlen. Wir werden uns weiter selbst organisieren«, sagt er.

 

Polarisierte Gesellschaft

Seit vergangenem Herbst sind auch die Verfechter der spanischen Einheit umtriebig. Zahlreiche Menschen aus dem Rest Spaniens reisten zu Demonstra­tionen nach Barcelona, um dort Gleichgesinnte zu unterstützen, denn ein ­bedeutender Teil der katalanischen Bevölkerung ist gegen eine Unabhängigkeit vom Zentralstaat. Zwei Tage vor dem Jahrestag des Referendums demonstrierten etwa 3 000 Beamte außer Dienst der Nationalpolizei und der para­militärischen Guarda Civil. Letztere ist in Katalonien nicht gern gesehen. Die demonstrierenden Polizisten wollten den wochenlangen Polizeieinsatz von 2017 zur Verhinderung des Unabhängigkeitsreferendums würdigen und forderten eine Erhöhung ihrer Bezüge, da Beamte der katalanischen Regionalpolizei Mossos d’Esquadra angeblich viel mehr verdienten als sie.

CDR und andere Bürgerinitiativen empfanden das als Provokation und ­organisierten eine Gegendemonstration mit ungefähr 6 000 Teilnehmern. Die Mossos d’Esquadra sollten die beiden Gruppen trennen. Die Wut der Sepa­ratisten entlud sich schließlich an den Regionalpolizisten, die mit Farbbeuteln und Eiern beworfen wurden.

Für Streit sorgen auch gelbe Schleifen im öffentlichen Raum. Separatisten bringen sie als Zeichen der Solidarität mit den Gefangenen an, ihre Gegner folgen der Aufforderung spanisch-nationalistischer Parteien, sie wieder zu entfernen. Das führte bereits zu mehreren Konflikten.

Für den Argentinier Sasha ist der erstarkende spanische Nationalismus das größte Problem, da dieser eine franquistische Färbung habe. »Seit ver­gangenem Herbst erlebe ich einen rückwärtsgewandten und oft gewalttätigen ›Españolismus‹, während die katalanische Bewegung selbst in den schlimmsten Momenten ruhig blieb. Ich habe keinen verschärften katalanischen Nationalismus gesehen, sondern den Wunsch nach Unabhängigkeit, was nicht dasselbe ist«, sagt er.

»Ein unfreundlicher Blick, wenn man sagt, dass man gegen die Unabhängigkeit ist; Straßen und Plätze mit einer obsessiven Präsenz gelber Bänder. Es ist nicht unerträglich, aber unangenehm.«
Nil Lopez, Jurist

Insbesondere unionistische Politiker und Medien sprechen von einer gespaltenen Gesellschaft in Katalonien. Der Jurist Lopez stimmt dem zu: »In Kata­lonien gibt es Probleme des Zusammenlebens, die sich in kleinen Gesten ­materialisieren: ein unfreund­licher Blick, wenn man sagt, dass man gegen die Unabhängigkeit ist; Straßen und Plätze mit einer obsessiven Präsenz gelber Bänder. Es ist nicht ­unerträglich, aber unangenehm.« Die Inhaftierung katalanischer Führungspersönlichkeiten habe das noch verschlimmert. Damit liefere man dem Unabhängigkeitsblock einen neuen Diskurs: Es gehe nicht mehr darum, Spanien zu »ver­lassen« aufgrund politischer, rechtlicher und finanzieller Unstimmigkeiten, sondern man müsse vor dem Staat »fliehen«. Argumente würden durch ­Gefühle ersetzt. »Ich erinnere mich an ein Video, das die Unabhängigkeit ­Kataloniens allein damit rechtfertigte, dass man von Spanien missbraucht, ­geschlagen und mit Füßen getreten werde«, so Lopez.

Die Studentin Clara meint, dass das Zusammenleben nicht gefährdet sei, aber die Positionen hätten sich verhärtet: »In unserer Familie sprechen wir das Thema nicht an.« Zum Referendum gingen sie und ihre Mutter, eine Katalanin, der Vater aus Asturien blieb zuhause. »Vorher stand mein Vater einer Unabhängigkeit offen gegenüber, aber nach den Ereignissen im vergangenen Herbst ist er noch mehr für die Einheit«, sagt sie.

Joan zufolge ist der Konflikt zwar gegenwärtig, er wirkt sich aber kaum im Alltag aus. Auch Sasha findet, dass der Konflikt spürbar, aber viel weniger ­präsent sei als manche Medien glauben machen. »Ich sehe vor allem die Empörung über die politischen Gefangenen, auch seitens vieler Gegner«, meint er.

 

Kritik an der juristischen Verfolgung
 

Neun katalanische Politiker und Aktivisten sind seit fast einem Jahr in Untersuchungshaft, angeklagt unter anderem wegen Rebellion und Aufruhr. Sieben Politiker sind im Exil. Zudem wird gegen Hunderte Bürger und Kommunalpolitiker im Zusammenhang mit der Abhaltung des illegalen Referendums ermittelt. Allerdings laufen auch ­Ermittlungen gegen einige spanische Polizisten wegen ihrer Prügelattacken gegen Wählerinnen und Wähler am 1. Oktober 2017.

Als Jurist empfindet Lopez die Gerichtsverfahren gegen die katalanischen Politiker gerechtfertigt, soweit es um die Vorwürfe des Amtsmissbrauchs, Ungehorsams und der Veruntreuung geht. Allerdings hält er den Vorwurf der Rebellion und des Aufruhrs für überzogen. »Und die Unter­suchungshaft ist völlig unverhältnis­mäßig«, sagt er.

Meritxell von den CDR sieht mögliche Verurteilungen mit Besorgnis. »Auf solche Delikte stehen viele Jahre Gefängnis. Das würde zu massiven ­Mobilisierungen führen«, sagt sie. Für Sasha ist die juristische Verfolgung ­politisch motiviert: »Ich habe keine gewaltsame Rebellion gesehen. Das ­Interessanteste an dieser Bewegung scheint mir gerade die gewaltfreie ­Haltung als zentraler Wert.« Wie Meritxell sorgt ihn, dass es zu Verurteilungen kommen könnte. »Für eine Verurteilung, besonders wenn sie hart ist, müssen die Richter ungeheuer fanatisch oder völlig dumm sein oder versteckte Interessen haben. Das wäre, als würde man literweise Benzin ins Feuer gießen«, meint er.

»Es schmerzt mich als überzeugten Europäer, dass die EU die Menschenrechte der zu Unrecht inhaftierten Aktivisten und unsere demokratischen Rechte nicht verteidigt«, sagt der Ingenieur Joan. Viele Katalaninnen und ­Katalanen sind von den Reaktionen der EU enttäuscht. Für Clara fing dies bereits beim Umgang mit den Flüchtlingen an, die passive Haltung ­angesichts der Repression in Katalonien habe sie noch mehr überzeugt, dass sie diese EU nicht wolle: »Das ist schade, denn ich war stets stolz darauf, Europäerin zu sein.« Sasha sagt, das Referendum habe dazu ­gedient, der Welt zu zeigen, dass Europa allein den Status Quo der Nationalstaaten und wirtschaftliche Inter­essen verteidige. Er hofft, dass die katalanische Bewegung eine Entwicklung hin »zu einem regionalisierten Europa« anstoßen könne. »Die Koordinierungsorgane wären auf europäischer Ebene und der Rest der Macht näher an den Menschen«, sagt er. Diese Hoffnung auf ein »Europa der Regionen« teilen allerdings auch zahlreiche Rechtspopulisten.
Mögliche Annäherung

Der spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE) hat mit seiner Minderheitsregierung erste Angebote gemacht, wie ein Referendum über mehr Selbstverwaltung aussehen könnte, wofür er aber sofort von den rechten Parteien Ciudadanos und Partido Popular (PP) kritisiert wurde. Die katalanische ­Regierung fordert die Freilassung der inhaftierten Politiker und Aktivisten als Basis für Verhandlungen und einen Vorschlag für ein vereinbartes Auto­nomiereferendum. Die spanische Regierung lehnte dies ab, in spanischen ­Regierungskreisen wird allerdings von »Begnadigung« gesprochen. Dennoch scheinen diese Gesten viele Katalaninnen und Katalanen nicht zu überzeugen. Denn auch Sánchez unterstützte die Zwangsverwaltung.

Joan ist überzeugt, dass es keinen großen Unterschied zwischen der ­Regierung des PSOE und des PP gibt. Das klarste Beispiel sei, dass die von den Sozialisten ernannte Generalstaatsanwältin nicht zugegeben habe, dass die katalanischen Politiker keine Gewalt angewandt hätten. Lopez begrüßt hingegen die neue Regierung. Zwar habe sich die Situation in Kata­lonien nicht gebessert, aber zumindest habe man gelernt, dass einseitige Maßnahmen zu keinem guten Ergebnis führten. »Politik muss Dialog und Vereinbarung in einem demokratischen ­Loyalitäts- und Willensraum sein«, sagt er.

Doch wie soll es nun weitergehen? Joan sieht eine demokratische Lösung im Referendum, weil 80 Prozent der Katalaninnen und Katalanen weiterhin legal über die Unabhängigkeit abstimmen wollen. »Es kann nicht sein, dass die Unionisten das Referendum blockieren, weil sie Angst vor der Veränderung haben«, sagt er. Lopez glaubt, die beste Lösung des katalanisch-spanischen Konflikts sei ein föderales Modell für Spanien: »Es ist wichtig, der katalanischen Frage einen neuen Ansatz zu geben, um zu vermeiden, dass die Trennung dauerhaft ist.«

Sasha hofft auf eine sofortige Freilassung der Inhaftierten, um die Situation zu entspannen, und eine ernsthafte Debatte, um zu einer Entscheidung zu kommen, mit der die Menschen leben können. Aber er ist nicht sehr optimistisch: »Ehrlich gesagt finde ich die Vorstellung eines republikanischen Kata­loniens jedes Mal attraktiver. Da stimme ich der CUP (das linksseparatistische Bündnis Candidatura d’Unitat Popular, Anm. d. Red.) zu, wenn sie sagt, Kata­lanisch sei jeder, der es sein will.«

 

*Name geändert