Frederick Wisemans neuer Film über die größte Bibliothek von New York

Wo Warhol, Dylan und Dietrich sich trafen

Der Regisseur Frederick Wiseman hat der New Yorker Public Library, eine der größten Bibliotheken der Welt, ein dokumentarisches Filmdenkmal gesetzt.

Stoisch fasst eine Angestellte der New York Public Library die umfangreiche Reservierungsliste eines Bibliotheksbenutzers zusammen. »Sie sind nah am Limit von 50«, sagt sie und ihre sich anschließende Aufzählung der vorgemerkten Titel klingt, als wolle sie damit ein Psychogramm des Bestellers anfertigen: »Is That All There Is?«, »Washington D.C.«, »Plants of Power«, »The Meaning of Life«, »The Marriage Benefit«, »Between Panic and Desire«. Währenddessen betreut ein anderer Mitarbeiter mit aller Zeit der Welt Anrufer mit unterschiedlichsten Anfragen und Interessen: Trauerliteratur, alte Bücher über Wappen aus Europa, Dokumente zur Geographie und Geologie von New York vor der Ankunft der Niederländer im frühen 17. Jahrhundert oder auch frühe Beschreibungen von Einhörnern – »Das Einhorn ist eigentlich ein erfundenes Tier, o.k.? Das Wesen hat nie existiert«, stellt der Bibliotheksangestellte klar, bevor er beginnt, ein Zitat aus dem 13. Jahrhundert aus dem Mittelenglischen zu übersetzen.

In Frederick Wisemans Institutionenportrait, das sich der Arbeit der New York Public Library (NYPL) und ihrer zahlreichen Zweigstellen widmet, sind zugespitzte Parallelmontagen wie die oben beschriebene eher selten. Dennoch führt die Szene geradezu exemplarisch vor, wie wenig zutreffend die Beschreibung von Wisemans Methode als unbeteiligter Beobachter, als fly on the wall ist. Zwar kommt einem das Wort »leidenschaftlich« bei den Filmen des 88jährigen Pioniers des Direct Cinema kaum als erstes in den Sinn. Doch tatsächlich haben sich nur wenige US-amerikanische Filmemacher in der letzten Zeit so vehement – und eben leidenschaftlich – für Demokratie und Inklusion ausgesprochen wie Wiseman in »Ex Libris: The New York Public Library«, der schon 2017 seine Uraufführung feierte.

Wiseman reiht ohne Interviews und Kommentare seine Beobachtungen aneinander. Sie erfassen die repräsentativen Seiten wie auch die unscheinbarsten Verzweigungen der Bibliotheksstruktur.

Wisemans 42. Film verbindet zwei Themenfelder, die der Regisseur in jüngeren Filmen wie »At Berkeley« (2013), »National Gallery« (2014) und »In Jackson Heights« (2015) bereits ausgiebig erforscht hat: Bildung und kommunale Arbeit. Denn wie »Ex Libris« in seinen insgesamt 197 Minuten deutlich macht, ist die private, städtisch geförderte New York Public Library weit mehr als ein Bücherlager. Als ein umfassendes Gemeinde- und Bildungszentrum gehört sie tatsächlich zu den wichtigsten kulturellen Institutionen der Stadt. Neben dem stattlichen Hauptsitz an der Fifth Avenue gibt es 89 Zweigstellen in der Bronx, Manhattan und Staten Island, hinzu kommen vier Forschungsbibliotheken. Mit über 51 Millionen Medien gehört die NYPL zu den größten Bibliotheken der Erde, das Jahresbudget wird auf über 250 Millionen Dollar beziffert.

Die konventionelle Bibliotheks­arbeit, das heißt die Bereitstellung von Medien zur Benutzung – von der Nutzerbetreuung über das Angebot der Lesesäle bis hin zur Arbeit in den Magazinbeständen – nimmt im Film einen eher nebensächlichen Platz ein. Die meiste Zeit verbringt der geduldige Wiseman mit der Kamera bei Vorträgen, Talks und Lehrveranstaltungen verschiedenster Art. Er verweilt bei Gesprächen und Buchpräsentationen mit Patti Smith, Elvis Costello und Ta-Nehisi Coates und schaut bei Ausstellungen oder Klavierkonzerten vorbei. Ebenso ausgiebig beobachtet er die Vermittlungsarbeit an der Basis, begibt sich in Kurse und Förderprogramme über Business, Programmieren und Sprachen, in Nachmittagsschulangebote und Erwachsenenbildung. Und er zeigt die Diskussionen in der Führungsabteilung, wo die Akquirierung von öffentlichen wie privaten Geldern und die Frage nach der Zukunft der Bibliothek vorherrschende Themen sind.

Wie üblich reiht Wiseman ohne Interviews und Kommentare seine Beobachtungen aneinander. Sie ­erfassen sowohl die repräsentativen Seiten wie auch die kleinsten und unscheinbarsten Verzweigungen der Bibliotheksstruktur. Bei einer Veranstaltung der »Richard Dawkins Foundation for Reason and Science« spricht der Vortragende über die fehlende Repräsentation nichtreligiöser Menschen in den USA. Eine Frau forscht in frühen Einbürgerungsdokumenten nach einer Person namens Hermann Herzog, der einst von Österreich nach Amerika einwanderte. Ein Mitarbeiter führt in das Bilderarchiv ein, das schon Künstler wie Diego Rivero, Joseph Cornell und Andy Warhol ausgiebig für ihre Arbeiten nutzten; lächelnd fügt er hinzu, Warhol habe eine Menge Bilder aus diesem Archiv gestohlen. Aber auch bei Spezialinteressen wie »Hunde in Aktion« oder »Ein Italiener, der im 18. Jahrhundert Puppen nach Frankreich bringt« wird man hier fündig. Bibliotheksnutzer ohne Internetzugang oder technisches Equimpment stehen zur Ausleihe von Laptops und Hot-Spot-Boxen Schlange.