Gespräch mit Daphne Büllesbach über transnationale Parteien bei EU-Wahlen und das emanzipatorische Potential von Städten

»Der Nationalstaat muss überwunden werden«

Daphne Büllesbach ist Geschäftsführerin der Nichtregierungsorganisation »European Alternatives«. Sie ist Politologin und Vorstandsmitglied des Think Tanks Institut Solidarische Moderne. Mit der »Jungle World« sprach sie über die bevorstehenden Europawahlen, transnationale Parteien und das emanzipatorische Potential von Städten.
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Die Wahlen zum EU-Parlament sollen im Mai 2019 stattfinden. Die Stimmung ist bereits jetzt aufgeregter als je vor einer Europawahl. Die Angst, dass rechte Parteien viele Stimmen und somit noch mehr Einfluss in Europa bekommen könnten, ist groß. Ist sie auch berechtigt?


Das ist jedenfalls eine Erzählung, die viele Menschen in Europa momentan teilen. Und viele sagen: So geht es nicht weiter. Es muss sich etwas ändern. Ein Ansatz, das zu verhindern, wären transnationale Parteien, die dann eben nicht nur national, sondern gleich ­europaweit für ihre Ideen einstehen können. Davon gibt es auch zwei, eine davon, DiEM25, ist eine linke Partei. Zugleich ist es aber fraglich, wie sinnvoll dieser Alarmismus ist. Den bedient beispielsweise DiEM25 sehr stark. Die Partei sagt, bis zum Jahr 2025 müsse sich Europa verändert haben, »oder es wird an seiner eigenen Hybris zugrunde gehen«. Viele Leute spricht das sicher an. Aber ich frage mich, ob das ausreicht, damit Leute handeln und selbst aktiv werden. Denn bei allem Alarmismus darf man nicht übersehen, dass es auch positive Entwicklungen in Europa gibt und welche Stärke gesellschaftliche Initiativen entwickeln konnten. Die Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, schafft neue Formen der Mit­bestimmung in ihrer Stadt. Italienische Bürgermeister nehmen gegen den ­Widerstand ihrer Regierung Flüchtlinge auf, in Irland wurde in Referenden für die gleichgeschlechtliche Ehe und Schwangerschaftsabbrüche gestimmt. Es verbessern sich auch Dinge.

 

Zugleich wächst die Zustimmung für Rechtspopulisten in fast allen europäischen Ländern. Und mittlerweile droht der italienische Innenminister Matteo Salvini, mit einer Fraktion von extrem Rechten das EU-Parlament zu übernehmen. Ist das nicht äußerst beunruhigend?


Das Szenario ist dann besonders beunruhigend, wenn auch die Konservativen diesen Vorstoß von extrem rechts unterstützen. Das haben sie in der Vergangenheit schon getan, indem sie ­Victor Orbáns Partei Fidesz in ihrer Fraktion toleriert haben. Das derzeitige Verfahren gegen Ungarn wirkt daher auch nicht besonders glaubwürdig. Das Mitte-rechts-Bündnis in der EU ist zahlenmäßig sehr groß und ich sehe keine Opposition, die sich dem entgegenstellen könnte.

 

Was für eine Politik wäre dann vom Europaparlament zu erwarten?


Es würde bedeuten, dass ein Gremium, das eigentlich europäisch und trans­national sein soll, seine Funktion nicht mehr erfüllen kann, weil es nur noch aus Nationalisten besteht, die keine europäische Politik mehr machen wollen. Konkret kann es ­natürlich Auswirkungen bei Themen wie Abschottung, Grenzsicherung und Migration haben. Aber auch das Schengen-Abkommen wäre in Gefahr und nicht zuletzt der Euro.

 

Wäre dem von links etwas Positives abzugewinnen?

Wenn ein Neuanfang unter linken Vorzeichen möglich wäre, das sind aber nicht die aktuellen Kräfteverhältnisse. Die Verschuldung von ­Italien ist der Wahnsinn, der aktuelle Haushalt der Regierung verstößt gegen EU-Regeln und bringt damit auch den Euro in Gefahr. Wenn solche Länder auch noch ihre faschistoide Politik in die EU einbringen, dann wird es gefährlich.

 

Ist denn die Vorstellung einer nationalen Internationale nicht widersprüchlich?


Die Hoffnung ist selbstverständlich, dass die Widersprüche in einer extrem rechten Fraktion zu groß wären. Aber der Austausch und die Vernetzung zwischen diesen Parteien besteht längst, auch wenn das manchmal irre Züge annimmt, wenn sich rechte ­rumänische Politiker mit Vertretern der italienischen Lega treffen, die sonst ständig gegen Rumänen hetzt. Aber man darf diese Zusammenarbeit trotzdem nicht unterschätzen, denn das gemeinsame Ziel ist eine Schwächung der Institutionen der demo­kratischen offenen Gesellschaft – das, was der Soziologe Wilhelm Heitmeyer als autoritären Nationalradikalismus bezeichnet.

 

Wenn es um Nationalismus geht, tun sich auch linke Parteien hervor. Gibt es in Europa ein Potential für eine Querfront?


Es gibt auch unter den linken Parteien solche, die die EU ablehnen. Sie kritisieren die EU als neoliberales Konstrukt und halten sie für nicht reformierbar, so wie es zum Beispiel Teile der Labour Party mit der Kampagne »Left Leave« getan haben. Das finde ich gefährlich und das war nie unsere Haltung bei ­European Alternatives. Bei DiEM25 geht aber die Kritik auch nicht in diese Richtung. Die Partei will sich mit den Institutionen auseinandersetzen. Es ist ein reformistisches Projekt mit einem radikalen Ansatz.

 

Sie haben vor kurzem eine Konferenz veranstaltet mit dem Titel »Beyond the Nation State«. Ist das eine Staatenkritik oder eher eine Idee für ein transnationales Europa?


Der Nationalstaat, der sich über Ethnie, Heimat und Boden definiert, muss überwunden werden. Dagegen sehe ich andere Grundlagen für Vernetzungen. Denn es gibt verschiedene andere Governance-Ebenen jenseits von Nationalstaaten. Wir wollten diskutieren, welche Modelle wir dem entgegensetzen können. Städte werden dabei in ­Zukunft eine besonders große Rolle spielen, sie könnten eine Alternative zur Organisation in Nationalstaaten darstellen.

 

Macht man es sich da nicht ein bisschen einfach? Schließlich leben in Städten ohnehin schon die Liberalen und Kosmopoliten.


Der Ansatz der Konferenz war es, wieder in Utopien zu denken und über die Neuerfindung von Formen demokratischer Repräsentanz. Ein Aspekt, den ich dabei wichtig finde, ist die Rolle der Städte und Stadtverwaltungen, weil hier die soziale Frage anders beantwortet wird. Denn Diversität ist in den Städten bereits Alltag. Sie könnten eine wichtigere Funktion oder sogar eine europäische Repräsentanz erhalten. Denn in Städten gibt es zum einen eine andere Art der Partizipation durch ­Proximität und andere Beteiligungsverfahren sind möglich, zum anderen wachsen Städte auch schneller.

 

Fragen von Beteiligung und Mitbestimmung sind ja implizit auch Klassenfragen. Welche Rolle spielen diese in Europa?


Wenn man diskutiert, welches Europa wir haben möchten und wer das ­gestaltet, sehen wir uns natürlich die Gesellschaft an. Es gibt ja heutzutage keine Arbeiterklasse, die sich homogen zu politischen Themen äußert. ­Betrachtet man aber zum Beispiel die Arbeiterinnen und Arbeiter in der ­sogenannten Gig Economy, sieht man: Sie schaffen es, sich europäisch zu vernetzen. Daraus kann eine emanzipa­torische Bewegung entstehen, weil diese Arbeiterinnen und Arbeiter die Not­wendigkeit von Transnationalität erkannt haben.