Faschismus als Gattungsbegriff

Die faschistische Gefahr besteht

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Jan-Georg Gerber verneint die Frage in Jungle World und verweist sie ins Reich der »Totenbeschwörungen«. Eines seiner Argumente lautet, es gebe nur geringe Gemeinsamkeiten zwischen »den neuen Bewegungen und Parteien«. Dies traf, wie erwähnt, bereits auf den historischen Faschismus zu. Gerber liefert einen Taschenspielertrick, indem er eine Reihe von Parteien oder Bewegungen aufzählt, aber dabei jene auslässt, die am ehesten zum Faschismusbegriff passen: »die ordoliberale Partei Ano in Tschechien, die strikt re­publikanische PiS in Polen, die in weiten Teilen ordoliberale Fünf-Sterne-Bewegung in Italien und die tatsächlich tendenziell völkische Fidesz in Ungarn«. Neben der völkisch beeinflussten Fidesz, die eher einer radikalisierten und dabei erfolgreichen CSU ähnelt, existiert in Ungarn allerdings auch noch die rund auf 20 Prozent der Stimmen kommende Partei Jobbik. In Italien denkt man nicht nur an die Fünf-Sterne-Bewegung, wenn man sich die Frage nach einer eventuell faschistischen Dynamik stellt, sondern unter anderem an die Lega, die bei Demonstrationen durchaus offen mit dem für einen »Faschismus des 21. Jahrhundert« eintretenden Zentrum Casa Pound kooperierte. Dem Einwand sei umgehend stattgegeben, im Unterschied zum zentralisierend auftretenden Faschismus der dreißiger Jahre hat die Lega regionalistische Wurzeln in Norditalien. Gerber erwähnt auch nicht die griechische Partei Chrysi Avgi (Goldene Morgen­röte), die es in jüngster Vergangenheit auf zehn Prozent Stimmenanteil brachte. Die Besonderheit von Chrysi Avgi gegenüber vergleichbaren Parteien ist, dass es sich um eine explizit hitleristische Sekte handelt. Ihr Aufstieg verdankt sich jedoch derselben Dynamik und vergleichbare Faktoren, die auch den französischen Rassem­blement National (RN), die österreichische FPÖ und Jobbik in Ungarn begünstigten.

Gerber zitiert Zeev Sternhell, ohne ihn zu zitieren, denn er behauptet, diesem Historiker des Faschismus zufolge seien »Kampf, Krieg, Soldatentum« sowie »Gewalt« dessen Wesensmerk­male. Sternhell definiert den von ihm untersuchten Präfaschismus, der ihm zufolge im Frankreich der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts beginnt, und den Frühfaschismus jedoch anders. Er betrachtet ihn als ideologische Syn­these, die aus dem Zusammenfließen von ehemals links und ehemals rechts konstruierten Elementen entsteht. So entsteht eine durch Wut über soziale Ungleichheit oder Ungerechtigkeit genährte Dynamik, die den Rahmen gesellschaftlicher Verteilungskämpfe sprengt – also sich nicht entlang von Klassengrenzen, sondern quer zu ihnen organisiert, unter der Leitidee von »Nation«, »Rasse« oder einer sonstigen »Gemeinschaft« – und zugleich die Arbeiterbewegung an Energie zu übertreffen versucht.

Das ist der Urgrund des Faschismus. Dieser strebt dabei eine mehr oder minder radikale Umwälzung auf Kosten von Gruppen an, die aus der »Gemeinschaft« herausdefiniert werden. Niederlagen der Linken oder ihre Unfähigkeit, auf konkrete historische Situationen zu antworten, sowie eine Zerstörung von Klassenbewusstsein – oder einer rationalen Erklärung der ­jeweils eigenen gesellschaftlichen Situation überhaupt – bilden die Ausgangsbasis dafür.

Der Faschismus der zwanziger Jahre war in einer Weise gewalttätig, die im Augenblick keine Entsprechung findet. Die Fronterfahrung von Millionen von Männern im Ersten Weltkrieg, die daraus folgende allgemeine Gewaltgewöhnung und die Wucht der Krisendynamik sorgten dafür, dass es in den Augen breiter Bevölkerungsteile als normal erschien, politische Konflikte mit tödlicher Gewalt auszutragen. Das Auftreten derzeitiger dem Faschismus als Gattungsbegriff zuzuordnender Kräfte wie RN, FPÖ und Jobbik erschienen in den Augen eines Faschisten von 1922 wohl tatsächlich lauwarm. Anders als Stefan Laurin suggeriert, kann Liberalismus dabei kein probater Gegenentwurf sein: Der deutsche Liberalismusbegriff schließt sowohl gesellschaftliche Liberalität als auch ökonomischen Sozialdarwinismus ein. Der Begriff »Liberalismus« in romanischen Sprachen ist hier klarer und bezeichnet nur den zweiten Aspekt – Augusto Pinochet und Jair Bolsanoro gelten dort als »liberal«.