Ab Freitag bis 28. November 2018 findet in London die Schachweltmeisterschaft statt

Eine Schachschlacht ohne Psychospielchen

Experten zufolge hat der Herausforderer Fabiano Caruana gute Chancen, Magnus Carlsen als Schachweltmeister abzulösen.

Wenn ab Freitag, dem 9. November, der norwegische Schachweltmeister Magnus Carlsen in London seinen ­Titel gegen den US-amerikanischen Herausforderer Fabiano Caruana verteidigt, geht es auch um die Führung in der Schachweltrangliste. ­Caruana ist durch seine konstant guten Turnierergebnisse in der Weltrangliste bis auf drei Punkte an Carlsen herangekommen. Und so sitzen sich bei der WM die derzeitig Bestplatzierten mit einer die Spielstärke bezeichnenden Elozahl von 2 835 (Carlsen) und 2 832 (Caruana) gegenüber. Für Carlsen bedeutet dies, dass er bei dem Match über zwölf Partien mindestens ein 6:6 braucht, um auf seinem Platz an der Spitze der Weltrangliste zu bleiben.

Außenstehende dürften sich fragen, ob das denn nicht egal sei. Schließlich steht der Weltmeistertitel auf dem Spiel, der seit 1886 offiziell ­ausgespielt wird und den solch berühmte Vorgängern wie Lasker, ­Capablanca, Aljechin, Fischer, Karpow und Kasparow trugen. Aber es war Carlsen selbst, der kürzlich in ­einem Interview zugab, dass der erste Platz der Weltrangliste, den er seit über sieben Jahren einnimmt, zu seinem Selbstbild gehöre. Der Weltmeistertitel sei für ihn nur der Ausdruck davon, bei bestimmten Turnieren erfolgreich gewesen zu sein. Die höchste Elozahl zeige dagegen, dass man dauerhaft das beste Schach spiele.

So dürfte es also eine doppelte nervliche Belastung für beide Spieler werden, wenn sie in den kommenden drei Wochen in London gegeneinander antreten. Und waren sich vor Carlsens vorheriger Titelverteidigung die Experten einig, dass er sich gegen seinen damaligen Herausforderer Sergej Karjakin durchsetzen werde, gibt es dieses Mal viele, die Fabiano Caruana im Vorteil ­sehen.

Dass unklar ist, ob die Fans die Schach-WM auf den gewohnten Portalen verfolgen können, schafft ein Spannungsmoment, auf das viele gerne verzichten würden.

Dieser sei hungriger, denn er habe eben etwas zu gewinnen, während Carlsen nur seine Position ­sichern könne. Außerdem sei Caruana der dominierende Spieler des Schachjahrs 2018. Er gewann nicht nur verdient und souverän das Kandidatenturnier in Berlin, mit dem er sich den Status des Herausforderers sicherte. Er siegte auch beim stärksten Turnier des Jahres, dem »Norway Chess«, sowie beim »Grenke Chess Classic« in Karlsruhe und Baden-Baden. Carlsen wiederum konnte für sich verbuchen, in den direkten Duellen dieses Jahr den besseren Eindruck hinterlassen zu haben. Das Turnierjahr bot allerdings für seine ­eigenen Ansprüche zu wenige Erfolge. Es scheint, als habe er in den ver­gangenen Jahren seine vollkommene Dominanz in der Schachwelt eingebüßt. Die Leichtigkeit ist in seinem Spiel nicht mehr so oft zu finden, auch sieht man häufiger grobe Fehler, die es früher nicht in einem solchen Ausmaß gab. Seine herausragende Stärke war und ist das Ausspielen und Ausmanövrieren seiner Gegner aus Positionen heraus, bei denen Amateurspieler sofort remis geben würden, weil diese vollkommen ausgeglichen wirken. Hier zeigte Carlsen nie zuvor gesehene Qualitäten, sammelte reihenweise Punkte aus Stellungen, in denen die meisten einen Sieg für unmöglich gehalten hätten.

Caruana gehört zu denen, die Carlsen in diesem Jahr widerstanden haben. Beim direkten Duell in der Karlsruher Schwarzwaldhalle vor mehreren Tausend Zuschauern sah alles nach einem Sieg Carlsens aus, aber sein Gegner verteidigte eine ­eigentlich verlorene Stellung, hielt das Unentschieden und gewann das Turnier dann mit einem Punkt Vorsprung vor dem Weltmeister.

Einiges wird auch bei dieser Weltmeisterschaft auf die Teams hinter den Spielern ankommen. Denn beide Kontrahenten dürften eine Schar von Großmeistern als Helfer engagiert haben, die mit Rechnerunterstützung – allerdings eher Serverparks, nicht handelsüblichen Laptops – nach Wegen suchen werden, um den Gegner in der Eröffnung zu überraschen und unter Druck zu ­setzen. Spannend wird sein, ob Caruana und Carlsen ihre Sekundantenteams nach London mitbringen werden. Carlsen ging bei seinem jüngsten Match einen neuen Weg: Sein Team saß über die Welt verstreut, via Skype wurden ihm nur noch vorgefilterte Ergebnisse präsentiert. Allerdings war das Ergebnis auf dem Brett nicht so, dass sich dieses Arbeitsmodell zur Wiederholung empfehlen würde.

Besonders erwartet wird auch das Aufeinandertreffen der beiden Trainer. Peter Heine Nielsen auf Seiten des Titelverteidigers und Rustam Kasimjanov auf Seiten des Herausforderers kennen sich in- und auswendig. Sie betreuten jahrelang gemeinsam dem früheren Weltmeister Viswanathan Anand. Sie gehörten zu dessen Team, als dieser in Bonn 2008 den Titel im Spiel gegen Wladimir Kramnik eroberte, und waren auch bei der folgenden Titelverteidigung gegen Wesselin Topalow dabei. Wer hier aller­dings Psychospielchen und große Geschichten neben dem Brett erwartet, wie es sie bei den legendären Schachschlachten zwischen Wiktor Kortschnoi und Anatolij Karpow oder Bobby Fischer und Boris Spasskij gab, dem kann man bereits vorab enttäuschende Wochen prognostizieren. Die derzeitige Generation der Spitzenspieler pflegt einen freund­lichen Umgang miteinander, ohne Skandale. Das Schärfste, was man unter Umständen erwarten kann, wäre ein böses Wort via Twitter. ­Ansonsten ist es mittlerweile eine Selbstverständlichkeit, dass unabhängig vom Ergebnis beide Spieler nach dem Ende der Partie auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der Öffentlichkeit zur Verfügung stehen. Es ist schwer vorstellbar, wie so etwas mit den Protagonisten früherer Jahrzehnte hätte stattfinden sollen.

Die WM in London wird zudem eine Bewährungsprobe für den Veranstalter, dem undurchsichtig finanzierten Unternehmen Agon Limited. Immer noch ist unklar, wie die Firma ihr vollmundig verkündetes Ziel, Schach weltweit zu fördern, erreichen will. Das Kandidatenturnier im März war ein abschreckendes Beispiel und zeigte, wie man es nicht macht. In einem abgeranzten Industriegebäude am Berliner Gleisdreieck wurde unter Bedingungen gespielt, die für Spieler, Zuschauer und Medien kaum zu akzeptieren waren. So gab es zu Beginn der Begegnung auf der einzigen Spielertoilette noch nicht einmal fließendes Wasser, um sich die Hände zu waschen. Zuschauer konnten sich nur an einem einzigen Automaten mit Getränken versorgen und Journalisten mussten froh sein, im Presse­raum einen Stuhl zu ergattern. Zu all dem kam hinzu, dass die zuvor wieder einmal großmundig angekündigte Internetübertragung ausfiel, denn in den ersten Tagen schaffte Agon es nicht, die Übertragung zu gewährleisten. Stattdessen musste die Firma auf Internetportale verweisen, die sie doch eigentlich rechtlich bekämpfen wollte.

Dass Agon kurz vor dem Beginn des Weltmeisterschaftsspiels erneut das gerichtlich mehrfach widerrufene Recht an der Übertragung der Züge auf dem Brett für sich beanspruchte und somit unklar ist, ob die Fans die WM auf den gewohnten Portalen ­verfolgen können, schafft ein Spannungsmoment, auf das viele gerne verzichten würden. Schließlich verspricht der Wettkampf zwischen ­Magnus Carlsen und Fabiano Caruana auch so schon Dramatik genug.