»The Kinks Are the Village Green Preservation Society« war der zu Unrecht größte musikalische Flop von 1968

Die Glaubenssätze von Fortis Green

50 Jahre ist es her, dass »The Kinks Are the Village Green Preservation Society« das Licht einer damals desinteressierten Welt erblickte. Die Geschichte des vielleicht besten Albums, sicherlich aber des größten Flops des Jahres 1968.
Von

Colin ist der Schnellere, der noch amtierende Champion liegt schon hoffnungslos zurück. Ein Langstreckenrennen ist im Gange, irgendwo im ländlichen England Anfang der sechziger Jahre, ein Prestigewettbewerb, der alle Jahre wieder zwischen der örtlichen public school, also einer privat finanzierten Schule für Kinder von Wohlhabenden, und der ebenfalls ortsansässigen Erziehungsanstalt für jugendliche Straftäter ausgetragen wird. Colin, wegen Diebstahls verurteilt, winkt im Falle des Sieges die vorzeitige Haftentlassung, doch er beginnt, sein Tempo zu drosseln. Vor seinem inneren Auge ziehen entscheidende Situationen seines bisherigen Lebens vorbei, ihm wird klar, dass sein Leben bislang immer von Autoritätspersonen bestimmt war, zu denen auch der ehrgeizig-wohlwollende Anstaltsdirektor zählt – und deren Anforderungen, in diesem Augenblick der Rennsieg, Colin nicht mehr erfüllen will; mit voller Absicht lässt er sich kurz vor dem Ziel überholen.

Diese Schlusssequenz des britischen Filmdramas »Die Einsamkeit des Langstreckenläufers« von 1962 liefert vielleicht am ehesten einen Schlüssel zum Verständnis der merkwürdigen Karriere der Kinks, die die Band in entscheidenden Momenten selber immer wieder sabotierten, indem sie die Erwartungen ihres Publikums, ihres Managements und ihrer Plattenfirma mit voller Absicht enttäuschte – in etwa wie Colin den Anstaltsdirektor und wohl auch aus ähnlichen Gründen.

So hatten sich die Kinks beispielsweise durch einen Streit mit einer mafiösen amerikanischen Musikergewerkschaft in den USA ein ­fi­nanziell verheerendes Auftrittsverbot eingehandelt. Den wohl schwersten Schlag jedoch fügte sich die Band 1968 zu. Denn der eigenwillige Beitrag der Kinks zu diesem denkwürdigen Jahr war ein Mitte November veröffentlichtes Album, dessen Titel allein schon skurril anmutete: »The Kinks Are the Village Green Preservation Society« wirkte regelrecht aus der Zeit gefallen, es war das gerade Gegenteil des großangelegten »White Album« der Beatles oder des Militanzgestus der Rolling Stones auf »Beggar’s Banquet« – ganz zu schweigen vom Acid Rock der US-amerikanischen Westküste von Jefferson Airplane oder Grateful Dead, der sich seinem Selbstverständnis nach angeschickt hatte, die Welt, wie sie bisher war, komplett umzustürzen, um fürderhin der absoluten Freiheit des Rauschs und der Revolution zu frönen.

Ausgerechnet die Kinks, die den anstößigsten Namen aller frühen Rockbands trugen, riefen mit ihrem Albumtitel zum Erhalt des traditionellen englischen Dorfangers auf.

Und ausgerechnet die Kinks, die den anstößigsten Namen aller frühen Rockbands trugen (»kinky« heißt umgangssprachlich so viel wie abartig, pervers, aber auch verkorkst und schrullig), riefen mit ihrem Albumtitel zum Erhalt des traditionellen englischen Dorfangers auf, der normalerweise als öffentlicher Kricketplatz dient, wenn nicht gerade die Pfarrei dort einen Basar veranstaltet. Das war nicht gerade das, was die Lautsprecher der internationalen Kulturrevolution der Jugend von der Band erwarteten, aber eben auch nicht das, was bisherige Fans verlangten, die die Veröffentlichungen der Kinks seit »You Really Got Me« (1964), mit dessen unverschämt brachialem Riff sie so nebenbei den späteren Heavy Metal begründen sollten, nahezu immer in hohe Chart-Ränge gekauft hatten. Kinks-Mastermind Ray Davies weigerte sich zunächst beharrlich, Singles aus »Village Green« auskoppeln zu lassen; später, als sich das Albums als nahezu totaler kommerzieller Fehlschlag erweisen hatte, setzt die Plattenfirma dann doch zwei Single-Auskopplungen durch – zunächst »Starstruck«, dann mehr als ein Jahr später das Titelstück »The Village Green Preservation Society« –, die das Schicksal des Albums teilten: Sie erreichten nicht einmal die Charts im Vereinigten Königreich.

Und doch bekam das Album, dessen von der Band sehenden Auges in Kauf genommener Misserfolg die Laufbahn der Kinks um ein Haar beendet hätte, in den Folgejahren heimlich, still und leise nicht nur eine Silberne Schallplatte, sondern eine Art Kult-Anhängerschaft; seine eigenartig wehmütige, zerbrechliche Schönheit, getragen von der traurigen Vorahnung, dass die allenthalben proklamierte Kulturrevolution der späten Sechziger auf gar nicht so lange Dauer alles, was die anglophone populäre Kultur einst ausgezeichnet hatte, verramschen und damit zerstören würde, enthüllte sich wohl erst so richtig unter dem Eindruck des monströsen Katers, der in den Siebzigern auf den großen Rausch folgen sollte. In den USA, dem Land, in dem die Kinks bis 1969 (nach ihrer abgebrochenen, in jeder Hinsicht desaströsen US-Tour 1965) nicht auftreten durften, begannen die Zweifel an den Segnungen der counterculture sich eher zu regen als in Europa. »Village Green«, das solches Unbehagen früh und hellsichtig artikuliert hatte, avancierte zum Geheimtipp. Die Village Voice nannte es bald »das beste Album von 1968«, das einflussreiche Rockmagazin Circus bezeichnete die Kinks als »unhip, aber gerade deswegen einzigartig, weil sie backdated sind und sich von der Weiterentwicklung des Pop fernhalten«.

Das traf die Sache durchaus: Die Kinks waren wie der einsame Langsteckenläufer Colin aus dem Rennen ausgestiegen, aus dem Rennen um neue Studiotechniken und ungeahnte Effekte; ebenso waren sie ausgestiegen aus ihrem Dasein als Lieferanten von Hits, wie sarkastisch (»Dedicated Follower of Fashion«), aufsässig (»Well Respected Man«), anklagend (»Dead End Street«), schmerzlich (»Waterloo Sunset«) oder auch schon augenzwinkernd nostalgisch (»Sunny Afternoon«) diese in den zurückliegenden Jahren gewesen sein mochten. All diese Songs hatten jedoch musikalisch wie textlich schon deutlich auf das willentliche Eigentor, das »Village Green« darstellte, hingedeutet; zeigten sie doch unüberhörbar, dass die Kinks andere Vorbilder hatten und andere musikalische Einflüsse verarbeiteten als nahezu alle der ingeniösen Blues-Adaptoren von Themse und Tyne: Die Kinks waren so gewissermaßen älter als die anderen, obwohl sie de facto zu den Jüngsten auf der Bildfläche zählten. Nachdem sie bereits in ihrem ersten Erfolgsjahr 1964 mit der Single »All Day and All of the Night« das harte Riffing, das sie groß herausgebracht hatte, einstellt hatten, waren ihre großen Hits musikalisch mehr der klassischen britischen Unter­haltungsmusik, wie sie vor dem Rock ’n’ Roll war, verpflichtet. Rhythmen, Klangfarben, Gesangsstil und Instrumentierung erinnerten an die music halls von Blackpool, an die absurd ditties der großen englischen Komiker wie Peter Cook und George Formby, an die Songs von Kurt Weill und generell an »Vaudeville and Variety«, die die Kinks denn auch auf »Village Green« explizit besangen – ihre Musik klang mehr nach Mackie Messer als nach Muddy Waters.