Geflüchtete auf Lesbos. Vier Porträts

»Hier im Projekt ist es sicher«

Seite 2 – Neda

Ich bin seit einem Monat hier in Camp Moria auf Lesbos. Als ich hierherkam, dachte ich, ich könnte anderen Flüchtlingen helfen, ihre Probleme zu lösen, weil ich Englisch spreche. Deshalb bringe ich Flüchtlingsfrauen, die alle aus Afghanistan stammen, Englisch bei. In der Regel sind sie einen oder zwei Monate in einem Kurs.

Wir fangen mit dem Alphabet an und jeden Tag bringe ich ihnen vier Wörter bei, für praktische Sachen wie Einkaufen zum Beispiel. In einem Monat sind das dann schon einige Wörter. Das ist verdammt hart, in einer Klasse haben wir gerade 60 Frauen und oft haben sie noch Kinder dabei. Wir können die Kinder nicht im Camp Moria lassen, weil es dort nicht sicher ist.

Neda

Neda

Bild:
Thomas von der Osten-Sacken

Ich komme aus Gazne in Afghanistan, es war Krieg und die Taliban haben die Stadt zerstört. Vor etwa zwei Jahren kamen die Taliban zu meinem Vater, um Geld zu verlangen. Mein Vater arbeitet als Farmer, und die Taliban kamen öfter wegen Geld. Aber das letzte Mal hatte er keines, die Taliban schlugen ihn; zwei Nachbarfamilien ging es ähnlich, ihre Väter wurden von den Taliban getötet. Mein ­Vater ist seither verschwunden, wir wissen nicht, was mit ihm geschah. Für meine Mutter wurde die Lage in Gazne immer schlimmer, es ist schwer für eine Alleinerziehende in Gazne.

Wir mussten fliehen und gingen nach Kabul. Dort hatte ich in der Schule einen Englischkurs, aber ich habe nebenher sehr viel Englisch geübt: Ich habe Filme auf Englisch angeschaut, Songs angehört, und jetzt geht es gut mit Englisch.

Wir dachten, in Kabul sei die Situation besser als in Gazne, aber das war nicht so. Es gab Explosionen, auch in dem Zentrum, in dem wir lernten. Wir sind dann illegal in den Iran geflohen. Das war hart. Man hat Angst vor der Polizei, aber auch vor den Leuten, man konnte sich nirgends sicher fühlen. Wir sind dann weiter in die Türkei und von da nach Griechenland. Das war sehr hart. Ich verlor meine Mutter und meine Schwester an der Grenze und kam allein hier an. Wir waren in zwei Autos, aber das eine war verdammt voll, ich war in dem einen und meine Familie in dem anderen. Der Führer sagte, wir würden am selben Ort ankommen. Ich wollte in das Auto zu meiner Familie, aber der Führer schrie mich an und sagte, gleich komme die Polizei. Wir in dem einen Auto sind dann in einem Wald angekommen. Das war hart, wir hatten nichts zu essen, tagsüber war es heiß und wir hatten kein Wasser. Als es Zeit war, zu dem Boot zu gehen, mit dem wir übersetzen wollten, fragte ich, wo meine Familie ist. Er sagte, wenn du willst, kannst du allein hier im Wald bleiben, wenn nicht, geh zum Boot. Wenn ich kann, bringe ich deine Familie dann auch. Ich bin dann zum Boot gegangen, aber ich habe meine Familie nicht wieder gesehen.

In Gazne war Krieg, es gab keine Elektrizität, nur meine Mutter hatte ein Telefon. In der Türkei hat sie sich eine neue Nummer gekauft und die kannte ich nicht auswendig.

Die Situation in Moria ist schlecht. Man lebt in einem Zelt und steht stundenlang in einer Schlange bei der Essensausgabe. Ich habe dann nach einem anständigen Platz gesucht, an dem ich Leuten auch helfen kann, und so bin ich hierher gekommen. Wenn ich ­täglich Leuten Englisch beibringe, gibt mir das Energie und ich fühle mich als gute Person, als gutes menschliches Wesen.

Hier ist die Lage besser als im Camp, auch wenn wir einiges noch verbessern könnten. Die Schülerinnen brauchen Stifte und Notizbücher.

Die Lage für Frauen und speziell Kinder im Camp Moria ist sehr, sehr schwierig. Wenn zum Beispiel die Mutter in die Schlange bei der Nahrungsmittelausgabe geht, bleibt das Kind oft im Zelt und niemand passt auf es auf. Die Schlange ist sehr lang und die Leute drängeln und schubsen sich. Manchmal ist das Haltbarkeitsdatum bei den Nahrungsmitteln abgelaufen. Wenn Leute krank werden, gehen sie zum Arzt, aber der Arzt macht nichts. Oft sagt er einfach, trink Wasser und du wirst dich besser fühlen. Aber Wasser ist keine Medizin, und oft haben sie keine Medizin für die Kinder und die Mütter. Das ist wirklich sehr, sehr hart.

Ich will weiter hier Englisch unterrichten, auch für afrikanische und arabische Frauen, nicht nur für afghanische. Und vor allem hoffe ich, Kontakt zu meiner Familie zu bekommen, ich weiß nicht wie, aber ich werde es versuchen.

Mein Vater hat mir gesagt, ich solle internationale Beziehungen studieren oder Jura. Ich würde gerne so schnell wie möglich aus Moria weggehen, zur Schule gehen und studieren, um dann als Anwalt oder so zu arbeiten, wie es der letzte Wunsch meines Vaters war.

Amir

Seit sechs Monaten bin ich hier im Camp Moria. Die Frau eines Freundes hat hier im Projekt einen Englischkurs gemacht und sie erzählte darüber. Ihr Mann sagte, ich könne hierhergehen und helfen, und das habe ich dann gemacht.

Amir

Amir

Bild:
Thomas von der Osten-Sacken

Wir haben aus Paletten Treppen am Hügel gemacht, Zelte aufgebaut und mit Paletten ausgelegt.
Ich komme aus Mashhad im Iran, dort habe ich als Schuhmacher gearbeitet. In Mashhad hatte ich Probleme mit der Regierung und der Gesellschaft, weil ich ein Atheist bin. Ich hatte so viele Probleme. Ich hatte eine Website, auf der ich ein paarmal was über Atheismus und gegen Religion gepostet habe. Ein Freund, der wegen mir Atheist geworden war und ein Internetaktivist war, wurde verhaftet; wir hatten Kontakt auf sozialen Medien, und die Polizei fand auf seinem Telefon meine Nummer. Dann wurde ich gesucht. Die Familie von meinem Freund sagte mir, ich sei der Grund dafür, dass er verhaftet wurde, und bedrohte mich. Sie sind Muslime, und normalerweise haben Muslime Probleme mit Atheisten. Ich hatte einen Pass und bin in die Türkei gegangen; dort habe ich zehn Monate in Kütahya in einer Schuhfabrik gearbeitet. Dort hatte ich auch Probleme mit Muslimen, ich sollte ihnen zeigen, dass ich ein Muslim bin. Das UNHCR machte dort nichts, und so beschloss ich, hierherzukommen.

Ich weiß nicht, was weiter mit mir geschehen wird. Am liebsten würde ich hier in diesen Tagen eine Schuhwerkstatt aufmachen. Ich kann nicht auf der faulen Haut liegen.