Essay - Isaac le Maire war der Erfinder der ungedeckten Leerverkäufe

Glanz und Elend des ersten Aktionärs

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In seinem Buch »Handel tussen Russland en de Nederlanden, 1560 – 1640« widerspricht der Autor Eric H. Wijnroks der von einigen ­Historikern favorisierten These, dass die künftigen Unternehmer allesamt bereits als wohlhabende junge Männer nach Amsterdam gekommen seien. Denn die Väter zumindest der bekanntesten späteren Multimillionäre waren entweder schon gestorben oder hatten sich aus dem aktiven Geschäft verabschiedet. Und das Familienvermögen musste entsprechend den damaligen Gepflogenheiten mit den oft sehr zahlreichen Brüdern und Schwestern geteilt werden.

Entsprechend seien Dirck van Os, Marcus de Vogelaer und eben Isaac le Maire keineswegs als wohlhabende Anfangzwanziger nach Amsterdam gekommen.

Der Erfolg der Antwerpener lag vielmehr an ihrer persönlichen und internationalen Vernetzung. Die jungen Kaufleute verfügten über etablierte Kontakte bis ins ferne Russland und waren gern dazu bereit, füreinander zu bürgen, was ihre Stellung im Geschäftsleben schnell verbesserte – nicht ihr Reichtum, sondern die Fähigkeit, aus dem existierenden Netzwerk Kapital zu generieren, sei einer der wichtigsten Faktoren ihrer kommerziellen Schlagkraft gewesen, schreibt Wijnroks.

Le Maire gehörte zu den Pionieren des Amsterdamer Russland-Handels, wie Gustaaf Asaert in seinem Buch »1585: de val van Antwerpen en de uittocht van Vlamingen ein Bra­banders« (1585: Der Fall von Antwerpen und der Auszug der Flamen und Brabanter) beschreibt. Ab 1592 tauchte sein Name in erhalten gebliebenen Dokumenten immer wieder in Zusammenhang mit Zee­verkeringpolis auf, einer auch im späteren Belgien gebräuchlichen speziellen, eng mit dem internationalen Seerecht verknüpften Versicherung für den Transport von Gütern per Schiff. Isaac verkaufte Korn und Holz aus dem Baltikum nach Spanien und Kaviar, Pelze, Leder aus Archangelsk nach Venedig und Livorno. Er erwarb sich rasch einen guten Ruf, auch unter den Seeleuten. Er galt als großzügig, die Männer durften sich auf seine Kosten beispielsweise neue Kleidung anschaffen und den Schiffskapitänen war es erlaubt, Waren auf eigene Rechnung beizuladen, wenn die Kapazitäten es zuließen. Von späteren Expeditionen wurde berichtet, dass Isaacs Frau Marie persönlich für qualitativ hochwertige und vor allem abwechslungsreiche Nahrungsvorräte auf den Schiffen sorgte.

Die le Maires wohnten in der Kalverstraat, benannt nach dem damals in der Nähe stattfindenden Kälbermarkt. Heute liegt das Haus in der teuersten Shoppingmeile der Niederlande, gegenüber dem Historischen Museum von Amsterdam. Anderthalb Kilometer entfernt befindet sich das Rijksmuseum, in dem das einzige bekannte Porträt le Maires hängt. Der auf die Zeit zwischen 1575 und 1599 datierte Kupferstich des Amsterdamer Künstlers und Verlegers Jacob Gole zeigt einen freundlich dreinschauenden älteren Mann mit Mittelscheitel und schulterlangen Locken.

Le Maire hatte rasch erkannt, dass das ganz große Geld im Ostasien-Handel zu machen war. 1599 gründete er die »Brabantsche Compagnie«. Zwei sehr erfolgreiche Handelsreisen nach »Oost-Indië«, Indonesien, brachten 400 Prozent Gewinn auf das investierte Kapital. Le Maire investierte sein Geld in Grundstücke in Egmond aan den Hoef, ein 35 Kilomter von Amsterdam und zehn Kilometer von Alkmaar entfernt liegendes Fischerdorf.

Weil die Getreidepreise hoch und die zum Anbau geeigneten Ländereien knapp waren, versuchte le Maire, durch einen Deich neue Flächen zu gewinnen. Zu diesem Zeitpunkt konnte nahe am Meer gelegenes Land höchstens als Weideland genutzt werden, weil es bei Sturm überflutet wurde.

Fasziniert vom Ostindien-Handel, verlor le Maire ­jedoch rasch das Interesse an dem Projekt und baute trotz der erfolg­reichen Ackerlandgewinnung keine weiteren Deiche. Am 19. Februar 1601 hat er außerdem das erreicht, wovon er vermutlich lange geträumt hatte – er wurde Bürger von Ams­terdam.

Das hatte wohl vor allem mit der Tatsache zu tun hatte, dass die Stadt Amsterdam die Fusion der »Brabantsche« mit der »Oude Oost-Indische« zur »Eerste Vereenigde Compagnie op Oost-Indië« verfügt hatte. Nur sie hatte fortan das Recht, Seehandel in den Gebieten östlich des Kaps der Guten Hoffnung und westlich der Magellanstraße zu treiben.

Ein Jahr später gingen alle niederländischen Handelsfirmen in der »Vereenigde Oostindische Compagnie« (VOC) auf. Le Maire investierte prompt 97 000 Gulden (der Name der Währung entstand als Abkürzung für den erstmals 1252 geprägten gulden florin, wie die Goldmünze der Republik Florenz im damaligen Niederländisch hieß) und wurde damit zu einem der größten Anteilseigner.

Mit der Gründung der VOC begann der moderne Aktienhandel. Die Idee dazu war allerdings nicht aus kaufmännischen Erwägungen entstanden, sondern um die zahlreichen Gegner der Gründung zu beruhigen. Die »Verenigde Oost-Indische Compagnie« war nämlich eine Zwangsmaßnahme. Um die Kräfte zu bündeln, hatte die Republik­führung beschlossen, dass alle Handelsgesellschaften in der VOC ver­einigt werden sollten. Die Begeisterung der bis dato unabhängig und auf eigene Rechnung agierenden Kaufleute hielt sich in engen Grenzen, vor allem außerhalb Amster­dams befürchtete man, dass die Hauptstadt in der neuen Firma das Sagen haben werde. Und so wurde schließlich ein Kompromiss angeboten. Es sollte der Beginn des Aktienhandels werden: Wenn ein nationales Unternehmen die Konzession für den Indien-Handel bekäme, würde jeder Einwohner der Republik das Recht haben, Anteile an diesem Unternehmen zu erwerben.

Das war eine wirkliche Innovation. An den ersten Handelsgesellschaften hatten sich Investoren zwar auch beteiligen können, die Anteile wurden jedoch lediglich für die einzelnen Expeditionen und Reisen ausge­geben und das Geld wurde einem Kaufmann mit meist sehr gutem Ruf übergeben. Nun aber sollte ein ­neues, unpersönliches Unternehmen an Stelle eines honorigen Händlers mit dem Geld von Investoren Geschäfte machen, die ihrerseits weder bei den Einzelheiten dieser Geschäfte noch bei der personellen Zusammensetzung der Firma Mitspracherecht hatten. Die erste Konzession der VOC lief zudem über einen Zeitraum von 21 Jahren, erst nach zehn würde dann erstmals die Möglichkeit bestehen, das Geld zurückzuerhalten. Zwischenzahlungen waren nur in Abhängigkeit vom Erfolg des Unternehmens möglich.

Einen Repräsentanten der Aktionäre in der Führungsspitze gab es nicht, außerdem erhielt die VOC das Recht, Krieg zu führen und Verträge im Namen des Ersten Staatssekretärs abzuschließen. Der Staat war ohnehin de facto Chef des Unternehmens. In Artikel sechs der Charta wird dem Ersten Staatssekretär das Recht gegeben, die Beschlüsse der Firmenleitung zu revidieren und Informationen zu erhalten, die den Anteilseignern verweigert wurden, wie etwa Details über die gehandelten Güter und die Einnahmen.

Gleichwohl reagierten nicht nur die Begüterten unter den Nieder­ländern begeistert. Während der Zeichnungsphase kamen 6,5 Millionen Gulden zusammen, nach heu­tigem Wert rund 100 Millionen Euro, den mit 50 Gulden niedrigsten Betrag hatte die Magd Dignum Jans investiert.
In seinem 1930 im »Economisch-Historisch Jaarboek« erschienenen Beitrag über »Isaac le Maire en de handel in actien der Oost-Indische Compagnie« beschreibt J. van Dillen die VOC als »Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung im Aufbautraining«, die durch Versuch und ­Irrtum lernte und teilweise vorwegnahm, was inzwischen zu den Selbstverständlichkeiten im Handel gehört.