Vivek Chibber: »Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals«

Das Schreckgespenst des Universalismus

Vivek Chibber seziert das Denken der Postcolonial Studies und attestiert eine fehlerhafte Marx-Lektüre.

Bei der postkolonialen Theorie, so der irische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton, handele es sich um »den florierendsten Bereich der Kulturwissenschaften heute«. Sie umgibt die Aura des radical chic, was zu ihrem Erfolg vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften, aber auch in der Publizistik, sicherlich wesentlich beigetragen hat. Eine Deutung dieser Erfolgsgeschichte bietet Vivek Chibber, Professor für Soziologie an der New York University, en passant in seiner Studie »Postcolonial Theory and the Specter of Capital« die schon 2013 bei Verso Books erschien und nun mit einiger Verspätung im Berliner Dietz-Verlag in deutscher Sprache veröffentlicht wird.

Postkoloniale Theorie, so Chibbers These, habe sich als kritische Theorie in dem akademischen Vakuum breitgemacht, das der Marxismus verschiedener Strömungen angesichts der scheinbaren Obsoleszenz des Klas­senkampfs hinterlassen hatte, und zwar gleichsam von »innen«, während die marxistischen Strömungen eher von außen an die Universitäten gekommen seien. Zu zeigen, dass die postkoloniale Theorie alles andere als ein geeigneter Nachfolger ist, kann mit einigem Recht als zentrales Motiv von Chibbers Studie bezeichnet werden.

Der Verfasser legt sich fest: es geht ihm entgegen verbreiteter akademischer Gepflogenheiten nicht um eine ergänzende Perspektive oder einen neuen Aspekt, nein, er will dezidiert zeigen, dass die Grundannahme des postkolonialen Theorieprojekts – eine »grundlegende Divergenz zwischen Osten und Westen« – schlichtweg falsch ist. Um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, er leiste sich eine unbotmäßige Verallgemeinerung eines heterogenen und pluralen intellektuellen Feldes, konzentriert er sich auf einen konkreten Gegenstand. Anders als der Titel suggeriert, geht es nicht um die postkoloniale Theorie an sich, sondern um die Subaltern Studies Group, eine Gruppe von dissidenten marxistischen Historikern, die sich auf Basis eines re­lativ typisch britischen Theoriefundaments – unter anderem Gramsci, ­Althusser und E.P.

Thompson – an die Revision der Geschichte der indischen Nation machten. Aus dieser Gruppe nimmt sich Chibber vor allem Ranajit Guha, Dipesh Chakrabarty und Partha Chatterjee vor.

Chibber sucht sich zum Zwecke seiner ideologiekritischen Betrachtung einen Korpus kanonischer und programmatischer Texte der Subaltern Studies heraus, aus denen er Thesen isoliert, die, so seine Behauptung, bei aller Heterogenität letztlich doch den argumentativen Nukleus der postkolonialen Theorie insgesamt ausmachen, und die er eine nach der anderen zu widerlegen sucht. Das Gespenst, das im Titel seines Buches spukt, verrät dabei schon viel, gemahnt es doch an das Manifest der Kommunistischen Partei, und verweist auf eine Eigenschaft, die Kapital und Bourgeoisie in diesem zu­geschrieben werden, nämlich »eine Welt nach ihrem Bilde zu schaffen«. Diesen Teilsatz, so könnte man Chibbers Argument stark verdichtet zusammenfassen, hätten die Subalternisten – gewollt? – missverstanden. Universalismus werde bei ihnen mit Homogenisierung identifiziert, und deren Scheitern als Beweis der Untauglichkeit – und damit des Eurozentrismus – bestimmter Marx’scher Kategorien präsentiert. Letztlich erscheinen den postkolonialen Theoretikern die Kategorien der Aufklärung insgesamt zumindest für die Beschreibung der Entwicklung
des indischen Subkontinents als un­genügend.

Bei Guha etwa findet sich diese Kritik des Scheiterns der »Universali­sierung des Kapitals« kondensiert in der Formel »Dominanz ohne Hegemonie«. Die indische Bourgeoisie ha­be es nicht geschafft, sich nach eu­ropäischem Vorbild als Vertreter der ganzen Nation zu setzen, entsprechend schwach oder gar nicht existent seien liberale politische Insti­tutionen, und als weitere Konsequenz würden politische Kämpfe etwa der Bauernschaft auch in einem nicht-materialistischen, meist religiösen Idiom artikuliert werden. Weil der Kapitalismus seine von Marx prophezeite Universalisierung in Indien nicht vollenden konnte, werden die »Form« Nation sowie eine spezifische Art der Geschichtsschreibung als eurozentrische epistemische Gewalt entlarvt. Vermittelt etwa über Gayatri Chakravorty Spivak, eine postkoloniale Theoretikerin von zweifellos zentraler Bedeutung, die zeitweise Mitglied der Gruppe war, revidierte man unter dem Einfluss des Poststrukturalismus den Marxismus nicht mehr, man verwarf ihn, auch wenn »Kapitalismus« – beziehungsweise was man darunter verstand – in der Rhetorik präsent blieb. Aus diesem Kernargument der gescheiterten Universalisierung, so kann man Chibber bei aller Verkürzung wohl wiedergeben, entstehen weitere Ideologeme, die ihrerseits dann doch wesentliche Elemente des Diskurses der postkolonialen Theorie sind: die Differenzemphase, der Kulturalismus, die Spezifik der politischen Psychologie postkolonialer politischer Subjekte, die Abwehr von Diskursen der Modernisierung mit ihrer Semantik der Objektivität und Rationalität, und dergleichen mehr.

Chibbers Ansatz ist nun nicht etwa, einfach das Gegenteil zu behaupten, sondern zu zeigen, dass hier eine recht interessierte Lesart des Kapitalismus zugrunde liegt: als Bezugspunkt diene den Subaltern Studies insgeheim die liberale Geschichtsschreibung, die auch dem Kolonialismus als Legitimationsideologie zugrunde lag. Diese wird in der sonst brauchbaren deutschen Übersetzung leider irreführend mit »Historismus« übersetzt (angemessener wäre »Historizismus«), und lässt sich am ehesten als lineare, teleologische Fortschritts­geschichte bezeichnen. Partha Chatterjee schreibt beispielsweise in »The Nation and its Fragments«: »Der Erzählung des Kapitals gelingt es, die Gewalt von Handel, Krieg, Völkermord, Eroberung und Kolonialismus in eine Geschichte des universellen Fortschritts, der Entwicklung, der Modernisierung und der Freiheit zu verwandeln.« Nun teilt Chibber mit dieser Art von Geschichtsschreibung ausdrücklich die Annahme, dass es gewisse Prozesse und Kategorien gibt, die tatsächlich global und universell gültig sind – er weist nur darauf hin, dass das, was die Subalternisten als »Symptome des Scheiterns« der Verbürgerlichung der Welt (und damit der Universalisierung) ansehen, keine Symptome des Scheiterns des Kapitals sind, sondern Begleiterscheinungen seines Erfolgs. Wie Dipesh Chakrabarty in »Provincializing Europe« schreibt: »Die subalternistische Geschichtsschreibung stellt die Annahme infrage, dass der Kapita­lismus zwangsläufig bürgerlichen Machtverhältnissen eine hegemoniale Position verschafft«, und weil dem so sei, scheitere auch das Kapital auf seiner unversalisierenden Mission. In Chibbers Lesart ein folgenreiches Mißverständnis: Nicht nur verwechseln die Subalternisten damit die tatsächlichen Absichten der europäischen Bourgeoise mit der Kolonialideologie, sie unterstellen auch Marxens Argument dieselbe unmittelbare Koextensivität von Kapital und einer bestimmten, auf Konsens gestützten Form bürgerlicher Herrschaft (»Hegemonie«), und bestreiten die Universalisierbarkeit der Kategorien, die für die Beschreibung des europäischen Kapitalismus gewonnen wurden. Unwillkürlich übernahmen die Subalternisten, so Chibbers Urteil, das »Bild, das sich die Bourgeoisie selbst von ihrer Vergangenheit malt – bereinigt, aufgehübscht und parfümiert«, das nicht einmal auf die bürgerlichen Revolutionen in Europa selbst zutreffe und das, trotz ­aller Ähnlichkeiten, mehr mit der liberalen Apologetik der »Whig his­tory« des 19. Jahrhunderts und ihrer Nachfolger zu tun habe, als mit Marx.

Chibber lehnt Kriterien wie »Hegemonie« oder »Homogenisierung« als Begrifflichkeiten zur Bestimmung der Universalisierung folglich ab, und bietet ein anderes: die Selbstexpansion des Kapitals, also die von Marx im ersten Band des Kapitals als »automatisches Subjekt« bezeichnete Eigenschaft des Werts, sich selbst zu verwerten; diese wäre nicht notwendig auf den »stummen Zwang der Verhältnisse« angewiesen, sondern kann sich auch Formen direkter Herrschaft bedienen. Mehr noch, Chibber lehnt sogar eine allzu schroffe Dichotomie von repressiven und auf »doppelter« Freiheit beruhenden Produktionsregimen ab; in ersteren trete der Zwang quasi tyrannisch von außen an den Produktionsprozess heran, in letzterer diffundiert der Zwang in den Produktionsprozess, et­wa durch Management, Produktionsanordnungen, und, so könnte man für die sogenannte Gig Economy ergänzen, letztlich in die Produzenten selbst. Keineswegs bedinge diese Dimension notwendig eine Homogenisierung dessen, was Chibber als ­»Makroebene« der politischen Institutionen bezeichnet: es spiele für das Kapital keine wesentliche Rolle, ob die politische Herrschaft die Form »Hegemonie« oder »Dominanz« habe, um Guhas Dichotomie nochmal aufzugreifen, und sei überhaupt deutlich weniger differenzfeindlich, als von der postkolonialen Theorie sug­geriert wird. An dieser Stelle könnten man einwenden, dass der Titel des Buches ungeschickt gewählt wurde, und angesichts der Hegelianischen Dimension dieser »sich selbst bewegenden Substanz« (Marx) »Geist« beziehungsweise »Spirit« die bessere Wahl als Gespenst gewesen wäre, es sei denn, er meinte damit das Schreckgespenst der universalen ­Homogenisierung, das die postkoloniale Theorie austreiben möchte.

»Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals« schließt mit einem scharfen Urteil: »Die Ironie des Projekts besteht darin, dass es sich zwar als das neue Gesicht der radi­kalen Kritik im Zeitalter des globalen Kapitalismus präsentiert, aber in ­seinen Argumentationen zentrale Elemente der konservativen Ideologie wie­derbelebt.« Postkoloniale Theorie verschleiere wesentliche Eigenschaften des Kapitalismus und reproduziere durch ihren Differenzfetisch einen exotisierenden Orientalismus, dessen Klischeehaftigkeit einem an anderer Stelle sofort ins Auge springen würde. Die polemische Härte des Arguments entging Chibbers Kontrahenten, trotz des weitgehend sachlichen Duktus und der präzisen Argumentation der Subaltern Studies Group, freilich nicht, und in der Folge der Publikation entwickelte sich eine Debatte (zu der ein Sammelband vorliegt), in der mit sehr harten Bandagen gekämpft wurde, und in der etwa Spivak es sich nicht nehmen ließ, Chibber nach Gutsdamenart als präpotent und anmaßend abzukanzeln. Ob die Übersetzung im deutschsprachigen Raum eine ähnliche Rezeption erfahren wird, bleibt vor dem Hintergrund des doch etwas anders gearteten politischen, histo­rischen und akademischen Horizonts abzuwarten.

 

Vivek Chibber: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals. Aus dem Englischen von Christian Frings, Dietz-Verlag, Berlin 2018, 382 Seiten, 29,90 Euro