Brexit - Die Nerven liegen blank

Theresa Mays Verzweiflungstat

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Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass die Tory-Fraktion der Befürworter eines »harten Brexit« ohne Abkommen in den kommenden Tagen ein parteiinternes Misstrauensvotum gegen die geschwächte Premierministerin May in Gang setzen wird. Boris Johnson schrieb kürzlich, man müsse »die Vorbereitungen beschleunigen«, die EU ohne eine Vereinbarung zu verlassen, das werde die EU dazu veranlassen, »ein großartiges Abkommen« zu liefern. Dominic Raab, bis November für den EU-Austritt zuständiger Minister, phantasierte davon, »no-deal deals« seien mit der EU möglich.

Tatsächlich ist ein Ausstieg aus der EU ohne Vereinbarung ein worst case-Szenario für die britische Wirtschaft, vor allem für den Handel. Die mit ­Waren beladenen LKW aus der EU würden womöglich für Wochen in den ­Häfen feststecken, und Kundinnen und Kunden würden vor leeren Regalen im Supermarkt stehen. Dies betrifft auch das Gesundheitssystem, denn viele Medikamente werden aus der EU eingeführt. Ein »no deal«-

Ausstieg hätte nach einer Analyse der Regierung einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 9,3 Prozent zur Folge.
Eine weitere Möglichkeit wäre ein zweites Referendum. Ohne einen Regierungswechsel ist das die einzige Option, den Ausstieg doch noch zu verhindern, und immer mehr Mitglieder des Parlaments sprachen sich in den vergangenen Tagen dafür aus. Führende Ausstiegsgegner, darunter Mitglieder der konservativen und der Labour-Partei, diskutieren bereits Pläne für eine weitere Wahlkampagne. Es solle eine basisdemokratische Bewegung ohne prominente Führungsfiguren geben, welche an der ursprünglichen Motivation der Austiegswählerinnen und -wähler ansetzt. Es solle beispielsweise gezeigt werden, dass der Verbleib in der EU dem wirtschaftlich schwächeren Norden zugute komme.

Doch gegen einen Verbleib in der EU und gegen das als »Verrat« empfundene Abkommen Theresa Mays mit der EU kämpfen auch die rechte United Kingdom Independence Party (Ukip) und rechtsextreme Gruppierungen. ­Einer der prominentesten britischen Rechtsextremen, Stephen Yaxley-Lennon, besser bekannt als Tommy Robinson, ehemaliger Anführer der English Defense League, schloss sich Aufrufen zu einer Demonstration gegen den ­»Brexit-Betrug« an. Robinson trat erst kürzlich eine »Beratungsfunktion« für die Ukip an. Am Sonntag stand er in der ersten Reihe des von etwa 1 500 Menschen besuchten Protestes in Westminster, nahe dem Parlamentsgebäude. Er nutzte die Gelegenheit, in einer Rede Ukip-Mitglieder anzuwerben; aus seiner Sicht könne die Partei die »Arbeiterklasse« zusammenbringen und repräsentieren. »Jetzt sind wir an der Reihe«, sagte Robinson und: »das Land ist bereit.« Dass ein Ausstieg der Arbeiterklasse nutzen würde, ist eine sehr gewagte Behauptung. Die Wirtschaftsprognosen der Regierung zeigen, dass der Norden und die Mitte Englands, also die traditionellen Industriegebiete, stärker vom Wirtschaftsrückgang betroffen wären als der wirtschaftlich stärkere Süden.

Dies ist ein Grund, warum Kritiker der Labour-Partei »Klassenverrat« ­vorwerfen: Da Labour nicht konsequent ein zweites Referendum fordere, han­dele die Partei nicht im Interesse der arbeitenden Bevölkerung in wirtschaftlich schwächeren Gebieten. »Als Labour-Mitglieder und Unterstützerinnen und Unterstützer wollen wir, dass unsere Partei in den kommenden Monaten dafür kämpft, das Anti-Arbeiterklassen-Desaster, das sich Brexit nennt, zu verhindern«, hieß es in einem offenen Brief von 40 Aktivistinnen und Aktivisten. Die gegen den Ausstieg und für ein zweites Referendum eintretende Organisation »People’s Vote«, die vor einigen Wochen 700 000 Menschen für eine Demonstration in London auf die Straße brachte, rief zusammen mit einer Vielzahl antifaschistischer Gruppen zu einer Gegendemonstration gegen den »Brexit-Betrug«-Protest von Tommy Robinson und Ukip auf. Etwa 10 000 Menschen nahmen an der von Gruppen wie Momentum, Unite Against Fascism und Feminists Against Fascism organisierten Demonstration teil, die von einem großem ­Polizeiaufgebot begleitet wurde.

Die kommenden Tage werden allerdings nicht von Protesten auf der Straße geprägt sein, sondern von dem institutionellen Chaos, das auf Mays Verschiebung der Abstimmung im Parlament folgt.