Endspiel: Die Inszenierung vom 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz

Großes Theater

Die berühmte Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz wurde von Theaterleuten wie Heiner Müller organisiert. Sie fügten sich lediglich einem Spielplan, der längst feststand.

Ist Hamlet, der dänische Prinz, im Shakespeare-Stück ein tragischer Held? Dem Intellektuellen mittleren Alters, der durch den plötzlichen Tod des Vaters mit den Staatsgeschäften konfrontiert wird, erscheint ein Geist, der seinen Onkel beschuldigt, den Tod geplant zu haben. Der mutmaßliche Attentäter hat inzwischen den Thron übernommen. Hamlet zweifelt. Ist Claudius wirklich der Mörder seines Vaters, wie der Geist behauptet? Muss Mord mit Mord gesühnt werden? Steht aber Claudius nicht auch für eine neue Politik, die mit dem rationalen Anspruch Hamlets vereinbar ist? Muss er nicht den neuen Machthaber stützen, gerade jetzt, wo Dänemark von den Truppen des norwegischen Königs Fortinbras umringt ist und auch Rebellion im Inneren droht? Hamlet zaudert. Will er einen neuen Staat? Oder lieber den alten des Vaters? Am Ende lässt der Prinz seine rationalen Ansichten beiseite und gibt sich der Rache hin. Nachdem er ein paar Leute erschlagen hat und selbst tödlich verwundet ist, betritt Fortinbras mit seinem Heer die Bühne. Er steht nicht für eine neue Idee, sondern für die Gewalt. Der Staat, in dem etwas faul war, ist untergegangen – und mit ihm der Intellektuelle, dem es nicht gelang, seine Maximen Wirklichkeit werden zu lassen.

Das Vorspiel zu dem Auftritt auf der großen Bühne des Alexanderplatzes fand in den Theatersälen der DDR statt.

Als der Dramatiker Heiner Müller im August 1989 am Deutschen The­ater (DT) in Ost-Berlin mit den Proben zu »Hamlet/Maschine« begann, war durchaus etwas faul im östlichen der beiden deutschen Staaten. Zwar verkündete der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker bei der Begutachtung eines in Erfurt produzierten Prototyps eines 32-Bit-Mikroprozessors, den Sozialismus in seinem Lauf hielten weder Ochs noch Esel auf, nur ­allein fehlte einer solchen Aussage der Bezug zur Wirklichkeit. Im Westen wurden 32-Bit-Prozessoren zu diesem Zeitpunkt seit fast zehn Jahren in Serie produziert. In einem auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs auf Pump finanzierten öko­nomischen Wettrüsten lag der Osten inzwischen deutlich zurück, und die Bevölkerung wünschte ein Konsumniveau wie in Westdeutschland.

Am 19. August kam es bei dem von dem rechtsextremen Sohn des letzten österreichischen Kaisers, dem CSU-Politiker Otto von Habsburg organisierten Paneuropa-Picknick zu einer Massenflucht von DDR-Bürgern über die ungarische Grenze. Und während also die Proben zu dem Abend, der den »Hamlet« mit Müllers »Hamletmaschine« verband, begannen, nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Die Zeit ist aus den Fugen, so heißt es bei Shakespeare.

Die Proben waren geprägt von den Zeitumständen. Ein Staat stand am Scheideweg. Die Feierlichkeiten zum Tag der Republik am 7. Oktober hatten schon etwas Gespenstisches. War die Vorstellung schon vorbei?

Schauspieler des Deutschen Theaters meldeten für den 4. November eine Demonstration auf dem Berliner Alexanderplatz an. In Leipzig kam es schon seit zwei Monaten zu Demonstrationen, auch in Dresden und Plauen. »Wir sind das Volk«, hörte man dort. Die Berliner Demonstration wurde genehmigt, der gesamte Vorgang war einmalig. Sonst organisierte die Partei die Aufmärsche für das Volk. Eine halbe Million Menschen versammelten sich zwischen Fernsehturm, Haus des Lehrers und Weltzeituhr, das Fernsehen der DDR brachte eine Liveübertragung. Unter den Rednern waren Ulrich Mühe, der Schauspieler des Hamlet, Gregor Gysi, der sich für einen Sozialismus mit Rechtsschutz des Einzelnen aussprach, die Schriftsteller Stefan Heym, Christa Wolf und Christoph Hein, die Schauspieler Johanna und Ekkehard Schall, Tobias Langhoff, Steffie Spira, Annekathrin Bürger und Jan Josef Liefers, der Rektor der Babelsberger Filmhochschule und spätere PDS-Vorsitzende Lothar Bisky, der ehemalige Geheimdienstchef Markus Wolf und der ehemalige Chefredakteur des Neuen Deutschland und SED-Politiker Günter Schabowski, der am 9. November bei der Ver­lesung des Beschlusses zur Grenzöffnung mit einer Improvisation zum Timing (»sofort, unverzüglich«) ungewollt seinen großen Auftritt feiern sollte.

Auch Heiner Müller sprach. »Ein Ergebnis bisheriger DDR-Politik ist die Trennung der Künstler von der Bevölkerung durch Privilegien. Wir brauchen Solidarität statt Privilegien«, sagte er. Eine Anspielung auf seine zahlreichen Reisen in den Westen, auf den Whiskey und die Havannas? Meinte er auch die Trennung zwischen den umstürzlerischen »Wir sind das Volk«-Demos in Sachsen und der von Teilen der Intelligenz brav angemeldeten Zusammenkunft mit Reformvorschlägen in Ost-Berlin? Von D-Mark und Einheit wurde auf dem Alexanderplatz nicht gesprochen, wohl aber von der Reformierbarkeit des Sozialismus. Müller verlas dann einen Aufruf zur Gründung unabhängiger Gewerkschaften, der hinsichtlich dessen, was dann letztlich kommen sollte, erstaunlich realistisch und pragmatisch war. »Wir müssen uns selbst organisieren. Die nächsten Jahre werden für uns kein Zuckerschlecken. Die Daumenschrauben sollen angezogen werden. Die Preise werden steigen und die Löhne kaum.« Andere Teilnehmer wie Heym, die durch die Demo euphorisiert sich das Morgenrot einer neuen, einer reformierten DDR erhofften, waren enttäuscht. Müller, ein Zauderer wie Hamlet?

Das Vorspiel zu dem Auftritt auf der großen Bühne des Alexanderplatzes fand in den Theatersälen der DDR statt. An kaum einem Flecken der Erde gab es so viele Theater wie in der Bühnenrepublik DDR, insgesamt über 200 zwischen Ostsee und Thüringer Wald. Sie waren Orte der öffentlichen Verständigung. Zwischen politischem Geschehen und thea­tralen Aufführungen ergaben sich Konstellationen, die Funken schlugen. 1988 machte der junge Frank Castorf Ibsens »Ein Volksfeind« in Karl-Marx-Stadt, ein Stück über einen Einzelnen, der die kompakte Majorität verflucht – laut Castorf eine seiner »besten, politischsten und bösesten Inszenierungen«.

 

Am Berliner Maxim-Gorki-Theater lief 1988 Volker Brauns »Die Übergangsgesellschaft«, die DDR als Tschechow’sche Tragikomödie zwischen Erschöpfung, Langeweile und ungerichtetem Aufbegehren. Und am Dresdner Staatsschauspiel wurden 1989 während Christoph Heins »Die Ritter der Tafelrunde«, die Versammlung um den greisen Artus dargestellt als Runde des endlosen Palavers, worin das Publikum eine Analogie zu einschlägigen Gremien des Staatsapparates zu erkennen vermochte, Resolutionen verlesen.

Nicht, dass das exemplarische Aufführungen für das gesamte DDR-Theater waren, aber sie waren exemplarisch für eine in den Theatern vorhandene Wendestimmung. Das sich später einiges wendete, so wie es die Künstler und Intellektuellen nicht beabsichtigt hatten, gehört auch zu dieser Geschichte.

Volker Braun beschrieb das 1990 in seinem Gedicht »Das Eigentum«: »Da bin ich noch: mein Land geht in den Westen./KRIEG DEN HÜTTEN FRIEDE DEN PALÄSTEN./Ich selber habe ihm den Tritt versetzt.«
Intellektuellendämmerung wie in »Hamlet«? Mit dem 9. November hatte sich die Situation verändert. Heiner Müller und die Schauspieler waren vom Alexanderplatz wieder ins Deutsche Theater zurückgekehrt und probten weiter. Im März 1990 kam die knapp achtstündige Inszenierung zur Aufführung. Ulrich Mühe stand an der Rampe und sprach Verse aus der »Hamletmaschine«: »Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa. Die Glocken läuteten das Staatsbegräbnis ein.« Wer ist der Geist des Vaters? Stalin. Und wer Fortinbras, der geistlose Eroberer?

Müller legte sich fest: Fortinbras ist die Deutsche Bank, die nun die Geschäfte übernimmt und die Geschichte bestimmt. »Aus Ideen werden Märkte«, warb das Unternehmen damals. Am Ende siegt das Kapital. Einen Monat vor der Premiere wurde in Leipzig auf Demonstrationen »Kommt die D-Mark, bleiben wir – kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!« skandiert, im Juli kam sie dann, die D-Mark, als Vorbotin der proklamierten Einheit.

»Zehn Deutsche sind natürlich dümmer als fünf Deutsche«, kommentierte Müller lakonisch den ­teutonischen Wiedervereinigungstaumel. Das war auch ein intellek­tueller Rückzug vor der hässlichen Wirklichkeit. Castorf sagte 1993 rückblickend: »Viele Punks und Intellektuelle trauern um den ›dritten Weg‹, der aber keine ökonomische Basis hatte, weil viele wichtige soziale Gruppen sich unter Honecker aus dem gesellschaftlichen Leben in ihre Kleingärten zurückge­zogen hatten und ansonsten das Märchen von des Kaisers neuen Kleidern spielten: Jeder weiß Bescheid, aber keiner sagt, was er sieht. An dieser Dekadenz ist die DDR innenpolitisch erstickt.« Die Wende begann lange vor 1989. Am 4. November auf dem Alexanderplatz kam ein heroisch inszeniertes Endspiel zur Aufführung. Es war der Endpunkt der Tra­gödie der Intellektuellen in der DDR, wie in »Hamlet/Maschine«. Hamlet war für Müller auch ein Beispiel für das »Versagen von Intellektuellen in bestimmten historischen Phasen«. Es war für ihn ein »stellvertretendes Versagen«: stellvertretend für das Unvermögen der Menschheit, die Welt nach Maßgaben der Vernunft, nicht des Kapitals einzurichten.