Vor 100 Jahren wurde die KPD gegründet

Morgen kommt die Weltrevolution

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Die linksradikale Gegenseite hielt eine Wahlbeteiligung für reine Zeitverschwendung. Man kalkulierte den Zeitraum bis zur Machtübernahme auf höchstens 14 Tage. Zehn Mann auf der Straße seien mehr Wert als 1000 Stimmen bei den Wahlen. Radek entfesselte Beifallsstürme, als er sagte: »Das, was wir jetzt in Russland verwirklichen, das ist nichts anderes als die große unverfälschte Lehre des deutschen Kommunismus, den Marx vor der Arbeiterklasse der ganzen Welt vertrat.« Die gänzliche Abschaffung der besitzenden Klasse könne nicht erfolgen durch parlamentarische Verhandlungen und Beschlüsse. Der Gedanke des Rätesystems sei empirisch gewachsen. Dieses Bekenntnis zum Rätesystem deutete die große Mehrheit der Delegierten als radikalen Antiparlamentarismus. Der Antrag, sich nicht an den Wahlen zur Nationalversammlung zu beteiligen, wurde mit 62 gegen 23 Stimmen angenommen.

Dabei hatte Luxemburg zuvor schon die Russische Revolution einer kritischen Würdigung unterzogen, ihre Anerkennung der historischen Leistung der Bolschewiki war nicht kritiklos. Bereits in den Spartakusbriefen hatte sie von der »russischen Tragödie« gesprochen. Am klarsten setzte sie sich in ihrer Gefängnisschrift »Die Russische Revolution« mit Lenin auseinander. Antidemokratische Maßnahmen kritisierte sie entschieden und warnte davor, dem russischen Beispiel blind nachzueifern: »Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, an Stelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen.«

Bereits auf dem II. Parteitag im Oktober 1919, bei dem die ultralinke Opposition aus der Partei gedrängt wurde, wurden Levis »Leitsätze über den Parlamentarismus« mehrheitlich angenommen. Zwar hieß es noch immer, die KPD stehe dem Parlamentarismus ­ablehnend gegenüber, doch wurde die Teilnahme an Wahlen als »rein taktische« Frage bezeichnet.

Die Frage, ob man sich an Parlamentswahlen beteiligen sollte, die heutzu­tage viele Linksradikale wohl verneinen würden, musste damals allerdings in einem anderen Kontext entschieden werden. Bis zum Ende der Monarchie galt das Dreiklassenwahlrecht, Frauen durften 1919 zum ersten Mal wählen. Die Hoffnung, mit den eigenen Anhängerinnen und Anhängern in den bürgerlichen Parlamenten einen kleinen Beitrag zur Destabilisierung des kapitalistischen Herrschaftssystems zu leisten, war nicht unbegründet. Dass diese Machtapparate eine enorme Integra­tionsfähigkeit besitzen, die antikapitalistischen und emanzipatorischen Bewegungen nicht immer guttut, wurde erst später deutlich.

Der Gegensatz zwischen der leninistischen und luxemburgistischen Parteiauffassung bestimmte den gesamten Gründungsparteitag, angefangen bei der Diskussion über den Namen der neuen Partei über die Frage der Beteiligung an bürgerlichen Parlamentswahlen und die nach Art und Weise der zu führenden wirtschaftlichen Kämpfe – nicht alle Delegierten favorisierten die Transformation der gesamten Volkswirtschaft nach dem Vorbild der deutschen Post, wie es Lenin vorschwebte – bis hin zu einzelnen Programmpunkten des Spartakusbundes. Dieser Antagonismus gilt als Antizipation der zahlreichen Parteispaltungen während der Weimarer Republik. Das Programm, das die Delegierten am Neujahrstag verbindlich annahmen, enthielt weitgehend die Zielvorstellungen und das Aktionsprogramm des Spartakusbundes, wie es Luxemburg ausgearbeitet hatte, und gilt als »Ausdruck der eigenen programmatischen Form, die der deutsche Kommunismus gefunden hatte« (Hermann Weber). Auffällig sind lediglich einige Unterschiede zur Programmatik und Taktik des damaligen Bolschewismus: die Rolle der Partei in der Massenbewegung, Methoden der Machteroberung sowie die Rolle des Terrors.

Welches Potential für eine emanzipierte antikapitalistische Gesellschaft in der neuen Partei steckte, verdeutlichen die Diskussionen auf diesem ersten Parteitag. Daraus zu schließen, die Geschichte hätte einen anderen Verlauf genommen, wären ihre führenden Köpfe nicht dem Bündnis von SPD, völkischen Freikorps und regulärer Armee zum Opfer gefallen, ist aber voreilig. Der nicht parteigebundene rätekommunistische Theoretiker Willy Huhn formulierte dies so: »Die Niederlage der Novemberrevolution war eine Folge der durch den ›Kriegssozialismus‹ bewirkten und bleibenden Integration weiter Teile des Proletariats in den deutschen Staat.« Theodor W. Adorno schrieb zu Beginn der fünfziger Jahre: »Seit mehr als 30 Jahren zeichnet sich unter den Massen in den hochindustriellen Ländern die Tendenz sich ab, anstatt rationale Interessen und allen voran das der Erhaltung des eigenen Lebens zu verfolgen, sich der Katastrophenpolitik zu überantworten.« In den Vorlesungen über negative Dialektik heißt es dann, der Übergang, der Karl Marx zufolge in der Periode von 1848 bevorgestanden habe, sei nicht eingetreten. Der qualitative Sprung, durch den die Welt verändert worden wäre, sei nicht erfolgt und das Proletariat habe sich nicht als das »Subjekt-Objekt der Geschichte« konstituiert, als das es »der Theorie von Marx zufolge sich hätte konstituieren sollen«.

Der Spartakusaufstand und die Räterepubliken in Bremen, München und Budapest blieben kurze Episoden, waren aber für eine Generation von Intellektuellen, zu der auch Adorno gehörte, eine einschneidende politische Erfahrung. »Dass nämlich«, wie es Leo Löwenthal einmal formulierte, »die Weltrevolution um die Ecke ist«, war nicht nur für politisch Linke damals gewiss.