Ein Nachruf auf den verstorbenen Schriftsteller Edgar Hilsenrath

Zumutbare Erinnerung

Der Schriftsteller Edgar Hilsenrath ist im Alter von 92 Jahren verstorben. Seine Bücher werden weiter für Irritationen sorgen.

Edgar Hilsenrath, dieser witzigste Autor unter den Überlebenden der Shoah, ist tot. Humor in der Holocaust-Literatur, geht das überhaupt? In seinem Fall, ja. Niemand verblüffte mit solchen alltagssprachlichen Dialogen, kaum jemand konnte solche Grotesken über die Judenvernichtung schreiben und zugleich so einfühlsame, leise Töne der Erinnerung an den größten Massenmord der Geschichte anschlagen wie Hilsenrath.

Als 1926 in Leipzig geborener, in Halle aufgewachsener und 1938 in das Schtetl Sereth in der rumänischen Bukowina geflohener Jude überlebte Hilsenrath das Ghetto von Mohyliw-Podilskyj, in dem bis zur sowjetischen Befreiung im April 1944 etwa 40 000 Menschen an Kälte, Hunger, Fleckfieber und Cholera starben. Über Palästina und Frankreich emigrierte er schließlich in die USA. Dass er seine schriftstellerische Karriere dort begann, beeinflusste sein Schreiben stark. Zugleich machte Hilsenrath aus seiner Liebe zu seiner Muttersprache keinen Hehl und zog 1975 zurück in die Bundesrepublik. Seither schrieb er seine Shoah-Romane zwar ausschließlich auf Deutsch, dabei jedoch stets stark von einem schnellen, dialogischen Stil geprägt, mit dem die deutsche Literaturkritik traditionell fremdelt.

In der vergangenen Woche ist der 92jährige, der sich vor einigen Jahren mit seinem Verleger und Betreuer Ken Kubota und seiner zweiten Frau Marlene aus Berlin nach Wittlich in der Vulkaneifel zurückgezogen hatte, an einer Lungenentzündung gestorben. Seine Bücher bleiben. Der Journalist und Verleger Volker Dittrich hatte sie seit Anfang des Jahrtausends in einer zehnbändigen Werkausgabe neu herausgebracht. Es kam zu einem juristischen Streit um die Rechte an den fremdsprachigen Publikationen Hilsenraths, der in ­einem Vergleich endete. Seither betreute Kubota das Werk, das nunmehr im Verlag Eule der Minerva aufgelegt wird.

Hilsenraths Bücher wurden in 18 Sprachen übersetzt und sind weltweit über fünf Millionen Mal verkauft worden. Die Rezeption dieses einzigartigen Autors lief allerdings schleppend an, lange ignorierte man seine Literatur. In seinem Debüt, dem knallharten Ghettoroman »Nacht« (1964), ging er irritierend lakonisch mit der konkreten Erfahrung der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in der besetzten Ukraine um. Der Roman trägt zwar denselben Titel wie Elie Wiesels Debüt »La Nuit« (1955), das 1960 unter dem Titel »Night« auf Englisch erschien und zu einem der bekanntesten Shoah-Romane in Nordamerika wurde, doch der Stil beider Texte könnte unterschiedlicher kaum sein. Hilsenraths »Nacht« kam zunächst im deutschen Kindler-Verlag heraus  – aber nur in einer kleinen Auflage. Bei der Wiederauflage im Jahr 1978 verhöhnte Fritz J. Raddatz den Roman in der Zeit als »erbärmliche« und »obszöne« Literatur eines »Nicht-Schriftstellers«.

Hilsenrath selbst bezeichnete den Roman als sein bestes Buch. Über zehn Jahre hatte er in New York als Hilfskellner gearbeitet und nachts an dem Text gefeilt, den er immer wieder umschrieb. Doch auch der 1971 in den USA erschienene satirische Roman »The Nazi and the Barber« wurde in Deutschland jahrelang nicht wahrgenommen. Erst 1977 brachte der Kölner Kleinverleger Helmut Braun dieses vielleicht erstaunlichste Buch Hilsenraths unter dem Titel »Der Nazi & der Friseur« heraus.

Die zögerliche Wahrnehmung Hilsenraths ist in einen größeren geschichtspolitischen Kontext einzuordnen. Jüdische Erinnerungen an die Shoah wurden in Deutschland von etablierten Institutionen unterdrückt. Auch Raul Hilbergs Standardwerk »The Destruction of the European Jews« (1961) dort erschien in Deutschland erst 1982 in einem kleinen ­Verlag. Raddatz’ Hilsenrath-Verriss erinnert in seiner blasierten Herablassung an die Kontroverse zwischen dem ehemaligen Mitglied der Hitlerjugend, Martin Broszat vom Institut für Zeitgeschichte, und seinem israelischen Kollegen, dem Holocaust-Überlebenden Saul Friedländer, in der es kurz nach dem deutschen Historikerstreit von 1986 um die »Historisierung des Nationalsozialismus« ging. Auch Broszat meinte seinem jüdischen Kollegen Friedländer vorschreiben zu können, wie man als Historiker »unbefangen« über die Judenverfolgung im »Dritten Reich« zu schreiben habe, um sich frei zu machen »von der falschen Vorstellung einer übermächtigen negativen Zentralstellung des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts«. Damals ging es, wie heutzutage wieder in der Bemerkung Alexander Gaulands, angesichts von »1 000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte« seien Hitler und die Nazis »nur ein Vogelschiss«, um eine Relativierung des Holocaust. Im Rückblick ist deutlicher zu sehen, dass auch Hilsenraths Literatur in den Sog dieser Grabenkämpfe geraten und missachtet worden war.

Viele deutsche Verleger, von arroganten Rezensenten wie Raddatz einmal ganz abgesehen, wollten die deutsche Schuld nur in Form ergriffenen Edelkitschs dargestellt wissen. Juden im Holocaust durften bestenfalls als entrückte Heilige dargestellt werden, die man so bequem würdigen und damit auch schon wieder vergessen konnte, weil sie tot waren. Hilsenrath zeigt jüdische Opfer als unansehnliche Machos und joviale Sprücheklopfer, die noch im Angesicht des Massengrabs billige Witze reißen und über Frauen reden wie Protagonisten bei Charles Bukowski. Das überforderte das deutsche Pub­likum der siebziger und achtziger Jahre hoffnungslos.

Mit seinem Roman »Das Märchen vom letzten Gedanken« (1989) vollbrachte Hilsenrath nach jahrelangem Quellenstudium das Kunststück, als Holocaust-Überlebender einen geradezu elegischen Text über den türkischen Völkermord an den Armeniern zu verfassen. Die Empathie eines jüdischen Zeugen der Shoah ermöglichte es, den bis heute in der Türkei aggressiv geleugneten Genozid in einer Weise historisch zu vergegenwärtigen, die Franz Werfels 1933 erschienenen Pionierroman zum selben Thema, »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, ästhetisch überflügelte. Hilsenraths »Märchen« wirft Licht auf das Problem der Darstellung verschiedener Genozide in einer Zeit wachsender Opferkonkurrenz und unvermeidlich gewordener Co-Erinnerung, und übt konstruktives Gedenken, das unterschiedliche Genozidtraumata vergleicht, ohne die Opfer gegeneinander aufzurechnen. Hilsenrath war damit seiner Zeit weit voraus. Sein Roman bietet Stoff für kommende Forschungskontroversen zum Shoah-Gedenken, wie sie etwa in den jüngeren Büchern der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch aufgeworfen oder auch in Michael Rothbergs Studie über das »Multidirectional Memory« (2009) verhandelt werden.

Auch aus gendertheoretischer Perspektive wird Hilsenraths Schreiben neu zu betrachten sein. Wie Maxim Biller, der in seinen Romanen jüdische Männerfiguren agieren lässt, die den deutschen Philosemitismus nachhaltig irritieren, bleibt die Frage, wie der notorische Sexismus von Hilsenraths Protagonisten zu deuten ist. Man muss hier differenzieren. Die feministische Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, die Hilsenraths Roman »Jossel Wassermanns Heimkehr« (1993) ablehnte, weil sie die Mischung aus »Zoten und Sentimentalitäten« als »schwer verdaulich« empfand, gibt in ihrer Autobiographie »Weiter leben« (1992) zu be­denken, Auschwitz sei »keine Lehranstalt für irgendetwas gewesen und schon gar nicht für Humanität und Toleranz«. Kaum ­jemand hat dies so schonungslos in seiner Literatur dargestellt wie Edgar Hilsenrath. Seine Romane werden uns weiter aufregen. Die Auseinandersetzung mit ihnen hat gerade erst begonnen.