Die israelische Organisation Hillel hilft Juden bei der Abkehr von der Orthodoxie

Unorthodox werden

Zehn Prozent der in Israel lebenden Menschen sind ultraorthodoxe Juden. Wer das streng religiöse Leben hinter sich lassen will, ist mit vielen Herausforderungen konfrontiert.
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Während der Dreharbeiten zu einer Dokumentation über Holocaust­überlebende gibt der Filmemacher Chaim Wolff Interviews, die meisten davon auf Jiddisch. »Mameloschn«, sagt er, das ist Jiddisch für »Muttersprache«.

Der 43jährige stammt ursprünglich aus Mea Shearim, einem der ältesten Stadtviertel Jerusalems außerhalb der Altstadt. Als Sohn einer chassidischen Familie wuchs er bis zu seinem 17. Lebensjahr in einem ultraorthodoxen Milieu auf, das sich streng an die traditionelle Aus­legung der Thora hält.

Sarah betont, dass sie lediglich der Orthodoxie habe entkommen wollen, aber nicht das Judentum verlassen habe. »Hin und wieder besuche ich eine Synagoge«, erzählt sie.

»Dort aufzuwachsen, bedeutete für mich, alle Gebote und Verbote zu achten«, erzählt Chaim. »Natürlich gibt es in dieser Welt auch viel Schönes, doch persönlich fühlte ich mich eingesperrt.« Schon als Kind diskutierte er mit Freunden über die Existenz Gottes und über die Frage, wieso man ihn fürchten und ihm treu ergeben sein müsse.
Er stellte die Lebensweise häufig in Frage, rebellierte und haderte mit seiner Religion. Unabhängig und selbstbestimmt zu leben, davon träumte er.

»Freiheit gehört zu den zentralen Begriffen der menschlichen Ideengeschichte«, sagt Chaim. »Es ist eine Möglichkeit, ja fast schon ein Luxus, ohne Zwang zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten auszuwählen und zu entscheiden.«

Anders als viele ultraorthodoxe Juden wollte er bei den israelischen Streitkräften dienen. Als er kurz vor seiner Volljährigkeit die Einberufung zum Wehrdienst erhielt, sah er darin eine Chance, der Enge zu entkommen. »Mit 18 Jahren ­würde mir meine zukünftige Ehefrau vorgestellt werden. Ich wusste schon von klein auf, dass ich niemals so leben wollte, und folgte meinem Herzen.« Tags darauf verließ er seine Familie.

Menschen wie Chaim dabei zu helfen, ein neues unabhängiges ­Leben aufzubauen, hat sich die in Jerusalem ansässige NGO Hillel zur Aufgabe gemacht. Sie gehört zur gleichnamigen weltweit größten ­jüdisch-universitären Studenten­organisation, die Ableger in Nordamerika, Europa und in Israel hat. In deren Zentren werden für jüdische Studenten und Hochschulangehörige religiöse, kulturelle und soziale Veranstaltungen organisiert. Die ­Organisation ist zugleich eine Anlaufstelle, die orthodoxen Aussteigern beratend zur Seite steht. »Seit 26 Jahren helfen unsere Sozial­arbeiter und Psychologen und bieten viele Dienstleistungen an, um die Abtrünnigen auf das neue Leben vorzubereiten«, erzählt Yair Hass, der Direktor von Hillel in Jerusalem. Obwohl Bildung bei der Neuorientierung eine wichtige Rolle spielt, wird die Organisation nicht vom Bildungsministerium gefördert, sondern vor allem von privaten Geldgebern finanziert.

Nach seinem Armeedienst, wo er in einer Infanterieeinheit diente, konnte Chaim mit Unterstützung von Hillel das Abitur nachholen. Die ­Organisation ermöglichte es ihm auch, Theater-, Film- und Medienwissenschaft zu studieren.

Chaim Wolff

Vorher und nachher: Chaim Wolff 

Bild:
privat

»Zu dieser Zeit entdeckte ich den Dokumentarfilm«, erzählt er. »Ich war fasziniert davon, bestimmte Themen szenisch zu präsentieren.« ­Seine Filme haben in Israel einige Preise gewonnen. Mit seiner Ehefrau Noga und den drei gemeinsamen Kindern lebt er im Norden von Tel Aviv. »Religion spielt bei mir fast keine Rolle mehr, aber die Tra­dition ist schön, vor allem die Feiertage.«

Nach all den Jahren hat Chaim kaum mehr Kontakt zu seiner ­Herkunftsfamilie. Für seine ortho­doxen Verwandten ist er nicht mehr existent. Nur seine Großmutter trifft er noch manchmal.

In Israel leben ungefähr 800 000 ultraorthodoxe Juden, das sind zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung. Die Chassidim leben meistens in abgeschotteten Bezirken wie Mea Shearim in Jerusalem oder Bnei Brak nahe Tel Aviv. Doch auch immer mehr Städte oder Stadtviertel werden von Ultraorthoxen dominiert.

Aber nicht alle Menschen, die in streng religiösen Verhältnissen ­aufwachsen, übernehmen die dort herrschenden Überzeugungen. In ­ihrem 2014 auf Englisch erschienenen Werk »Unorthodox werden: ­Geschichten ehemaliger Chassidim« schildert die Soziologin Lynn Davidman die Gründe für die Abwendung vom orthodoxen Judentum. Es seien weniger die Verlockungen der säkularen Welt als die Strenge und der Druck der Gemeinden, die vor allem junge Orthodoxe dazu brächten, auszusteigen. Sie erlebten die Gesetze der Religion als eine Quelle des Schmerzes und wollten ausbrechen.

Selbstverständlich sind die Gründe für die Neuorientierung stets unterschiedlich und persönlich. Bei einigen Menschen kann es der soziale und emotionale Aspekt sein, der in dieser starren Struktur zu kurz kommt, andere beklagen den Mangel an persönlicher und sexueller Freiheit oder den fehlenden Zugang zu säkularen Bildungseinrichtungen. Durch die digitalen Medien ist die verbotene Welt zumindest ­näher gerückt.

Nach Angaben der israelischen NGO »Out for Change« verlassen jährlich etwa 1 300 Personen im Alter bis 25 Jahren das orthodoxe Judentum. Die NGO steht jedem Abtrünnigen offen und kann dank eines ­Zuschusses der Shusterman Foundation Hilfesuchenden in vielen ­Bereichen zur Seite stehen.

So auch der 29jährigen Sarah Schlesinger. Sie wuchs in Bnei Brak auf und lebte bis zum Alter von 17 als ultraorthodoxe Jüdin. Während der Pubertät wuchsen die Zweifel. Als sie sich in einen gleichaltrigen Charedi verliebte, mussten sie ihre Beziehung geheim halten, denn das Berühren von Angehörigen des anderen Geschlechts ist Orthodoxen bis zur Hochzeit strikt verboten. »Wir mussten unsere Zuneigung füreinander verheimlichen. Dies belastete mich emotional.« Zudem hatten ihre Eltern bereits einen anderen Mann für Sarah ausgesucht. »Ich sollte jemanden heiraten, den sie für richtig hielten, dabei gehörte mein Herz jemand anderem.«

Zusammen mit ihrem Freund verließ sie vor mehr als zehn Jahren ihren Heimatort, beide lebten zunächst bei einer Tante von Sarah, die ebenfalls der orthodoxen Religion abtrünnig geworden war. Sie verwies das Paar auch an »Out for Change«. »Die Organisation stellte den Kontakt zu Hillel her, welche uns beim Übergang in die säkulare Welt half«, erzählt Sarah. »Wir wohnten im Kibbuz Maagan Michael an der Küste vor Haifa. Ein Jahr später dienten wir in der israelischen Armee und holten auch unseren Schulabschluss nach.«

Sarah

Inzwischen haben sich ­Sarah und ihr Ehemann  vom streng religiösen ­Leben verabschiedet.

 

Bild:
privat

Hillel half ihr auch, ein Stipendium zu bekommen, um Psychologie an der Universität in Tel Aviv zu studieren. Zurzeit ist ­Sarah als Psychologin tätig. Sie ist mit ihrer Jugendliebe ver­heiratet und Mutter von Zwillingen. »Die Hochzeit verlief natürlich ganz nach jüdischer Tradition«, sagt Sarah. Mittlerweile hat sie auch wieder Kontakt zu ihren Eltern. »Es hat lange gedauert, bis sie mein Leben akzeptierten, doch sie wollten ihr Kind auch nicht verlieren.«

Sarah betont, dass sie lediglich der Orthodoxie habe entkommen wollen, aber nicht das Judentum verlassen habe. »Hin und wieder besuche ich eine Synagoge«, erzählt sie. »Das Spirituelle an meiner Religion fasziniert mich eben mehr als die Dogmen irgendwelcher Rabbiner. Außerdem interessiere ich mich auch für andere Philosophen, die nicht in der jüdischen Tradition stehen.«

Viele ehemalige orthodoxe ­Juden sehen sich selbst nicht als Abtrünnige. Sie haben lediglich einen neuen Weg des Umgangs mit dem Judentum gefunden. »Wir leben nicht nach den strengen Regeln der Thora, sondern verstehen uns als weltliche ­Juden«, sagt Chaim Wolff. Er vergleicht sich mit einem Kultur­kritiker, der alles hinterfrage, aber trotzdem ein säkulares Judentum lebe. »Unsere Mischpoke muss das akzeptieren und dadurch einen Weg zu uns finden«, sagt er auf Jiddisch. »Alle zusammen.«