Für den britischen EU-Austritt liegt immer noch kein Abkommen vor

Abstimmen bis zum Austritt

Das Unterhaus des britischen Parlaments ist tief zerstritten über die von der britischen Regierung vorgelegte EU-Austrittsvereinbarung. Es ist unwahrscheinlich, dass vor dem geplanten Austrittsdatum ein Kompromiss erzielt werden kann.

Kurz vor Weihnachten und unter lautem Protest des Unterhauses des Parlaments hatte die britische Premierministerin Theresa May den Termin für die Abstimmung über die von ihr ­ausgehandelte EU-Austrittsvereinbarung auf Mitte Januar verschoben. Sie hatte alle Abgeordneten des Unter­hauses gebeten, ihren Vorschlag genau anzusehen, und betont, dass er das Beste sei, was in den Verhandlungen mit der EU erzielt werden könne.

Vielleicht hatte May gehofft, die Abgeordneten der beiden großen Parteien besönnen sich über die Feiertage darauf, einen Kompromiss zwischen den Maximalforderungen der Ausstiegsbefürworter und -gegner zu erzielen. Ihr Vorschlag stelle einen solchen dar, sagte May. Ihr Problem war und ist ­allerdings, dass kaum jemand einen Kompromiss möchte, weder im Parlament noch außerhalb. Vielleicht hatte sie auch erwartet, dass die Abgeordneten wegen des wachsenden Zeitdrucks ihrem Vorschlag zustimmen würden. Denn am 29. März soll Großbritannien aus der EU austreten, mit Vertrag oder ohne.

Viele Abgeordnete ihrer eigenen Konservativen Partei wollten ihrer Vereinbarung nicht zustimmen, da ein »weicher Brexit« nicht mit den Vorstellungen dieser Gruppe von einem wirtschaftlich unabhängigen und weniger Regeln unterworfenen Königreich übereinstimmt. Dieser Gruppe wäre ein Ausstieg ohne Vertrag nur recht. Abgeordnete von Labour und anderen Parteien bemängeln Mays Vereinbarung, weil sie eine Aufweichung von Arbeitnehmerrechten und europäischen Sozialstandards befürchten, und beanstanden das Fehlen einer Zollunion, die insbesondere der Vorsitzende der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, anstrebt. Niemand außer May selbst und einer fraktionsübergreifenden Minderheit hält den Vorschlag für eine gute Lösung.

Am 15. Januar, dem Tag der Abstimmung, erlebte die Premierministerin eine heftige Niederlage. 432 von 650 Abgeordneten des Unterhauses stimmten gegen ihren Antrag, darunter sowohl Ausstiegsbefürworter als auch -gegner. Zuvor war noch über verschiedene Änderungsanträge abgestimmt worden, aber auch das änderte nichts am Gesamtergebnis.

Mays Kritiker argumentieren, dass keine andere Premierministerin eine solche Niederlage politisch überlebt habe. Bereits einen Tag später musste sich May im Unterhaus einem Misstrauensvotum stellen, auf Antrag der Labour-Partei, der von der Scottish National Party und den Liberaldemokraten unterstützt wurde. Wie erwartet erhielt sie mit 325 zu 306 Stimmen das Vertrauen. Die Konservative Par­tei ist zwar selbstzerstörerisch gestimmt, will aber Neuwahlen, die zu einem Machtverlust führen könnten, nicht riskieren.

May wollte ihrer Vereinbarung noch eine Chance geben und legte sie dem Unterhaus in geänderter Form am Montagnachmittag noch einmal vor. Die Änderungen beziehen sich vor allem auf das künftige Verhältnis zwischen Großbritannien und Irland. Eine überwachte  Grenze zwischen den beiden Staaten nach dem EU-Austritt soll vermieden werden. Mit der EU abgestimmt sind diese Änderungen allerdings nicht. Dafür, dass sie kaum neue Ideen präsentierte, wurde May von europäischen Politikerinnen und Politikern und der EU kritisiert.
Der Premierministerin war klar, dass sie vorher einen überparteilichen Konsens hätte erzielen müssen. Sie hatte daher die Vorsitzenden aller Parteien dazu aufgerufen, sich an Gesprächen zu beteiligen, um einen Kompromiss zu erzielen. Die Vorsitzenden der anderen Parteien, insbesondere Corbyn, hielten dies allerdings für Zeitverschwendung, da sich substantiell nichts an der ausgehandelten Vereinbarung ändern würde, wie sie sagten. Für seine Gesprächsunwilligkeit wurde Corbyn scharf kritisiert.

Corbyn sieht sich zudem dem Unmut sowohl seiner Parteibasis als auch seines Schattenkabinetts ausgesetzt. Er wirbt für einen Ausstiegsvertrag mit mehr Arbeitnehmerrechten und einer Zollunion. Das geht der Basis allerdings nicht weit genug. In einer überraschenden Wendung reichte die Labour-Partei am Montagabend einen Änderungsantrag ein, der eine Abstimmung im Parlament über zwei Optionen fordert. Demzufolge sollen sich die Abgeordneten zwischen einer von ­Labour entworfenen alternativen Austrittsvereinbarung, die etwa die Zollunion bewahrt, und einem Referendum über eine im Parlament mehrheitlich verabschiedete Vereinbarung entscheiden können. Zum ersten Mal nimmt Labour damit implizit auf ein  zweites Referendum Bezug. Theresa May will diesen Antrag ablehnen.  

Die Mehrheit in Corbyns Schattenkabinett hatte zuvor mit ihrem Rücktritt gedroht, sollte er eine zweite Abstimmung unterstützen. Die meisten der Schattenministerinnen und -minister und der engsten Vertrauten Corbyns stammen aus Wahlkreisen, in denen mehrheitlich für einen Ausstieg gestimmt wurde. Sie fürchten um ihre Wiederwahl, falls Labour ein zweites Referendum forcieren sollte.

Wenn es May nicht gelingt, einen Kompromiss zu erzielen, der vom Unterhaus getragen wird, ist ungewiss, wie es weitergehen soll. Von einem zweiten Misstrauensvotum über Neuwahlen bis hin zum »harten Brexit«, einem EU-Austritt ohne Abkommen, ist alles möglich. Das Verhalten der ­Regierung und der Opposition wird zudem von einer Grundsatzdebatte über die jeweiligen Befugnisse von Regierung und Unterhaus beeinflusst.

Abgeordnete beider Parteien wollen Änderungsvorschläge im Unterhaus einreichen, die besonders darauf abzielen, einen Austritt ohne Abkommen zu verhindern. Etwa soll eine Klausel eingefügt werden, die eine Verlängerung oder Aussetzung des Verhandlungsprozesses erwirkt, wenn keine Einigung über einen Vertrag erzielt werden kann. Die Regierung wirft diesen Abgeordneten, die eine Verlängerung der Austrittsfrist nach Artikel 50 des EU-Vertrags erreichen wollen, vor, die Souveränität der Regierung zu untergraben und die Rechtmäßigkeit eines geordneten Austritts zu gefährden.

Manche konservative Kritiker halten diese Anträge für undemokratisch. In ihren Augen gibt es eine Verschwörung der »Pro-EU-Elite« im Parlament, die mit allen Mitteln den Austritt verhindern wolle. Nigel Farage, der ehema­lige Vorsitzende der United Kingdom Independence Party (Ukip), jener rechtspopulistischen Partei, deren Programm sich auf den EU-Austritt des Landes beschränkte, ist besonders unzufrieden. Er kündigte an, eine neue gegen die EU gerichtete Partei zu gründen, sollte sich der EU-Austritt ver­zögern.