Gedanken über die Verwirklichung des Kommunismus

Tschüss, Commune?

Seite 2 – Eine Leerstelle im Räte- und Linkskommunismus
Essay Von

Warum Giesslers Buch notwendig ist, zeigte sich auf der Diskussionsveranstaltung in Leipzig. Auch der Text der »Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft« über die »Weltcommune« reflektiert die Erfahrungen aus der Kommunismusgeschichte. Die Verfasser sehen in Anlehnung an Anton Pannekoek Räte als die Kerninstitution einer vernünftigen Gesellschaft an, Gremien, in denen Menschen, »die an einem bestimmten Ort arbeiten oder leben, über ihre gemeinsamen Angelegenheiten gemeinsam beratschlagen, sie praktisch gestalten und sich mit anderen durch jederzeit absetzbare Delegierte abstimmen«. Die »Freundinnen und Freunde« erteilen dem Staat und seinen Machtmitteln ebenso eine Absage wie den Marx’schen Stundenzahlungszetteln, sie gestehen zu, dass man eine grobe Arbeitszeitrechnung bräuchte, um überhaupt zu wissen, welche Produktionsmittel sinnvoller sind als andere, halten aber eine gesellschaft­liche Planung in Gebrauchswerten für sinnvoll, also nicht in Preis- oder Zeiteinheiten. Das alles ist in weiten Teilen klug und in noch größeren Teilen sympathisch. Dennoch bleibt nach der Lektüre eine gewisse Unzufriedenheit, der Eindruck, dass der Text, so konkret er auch ist, kaum in Verbindung zur ­gesellschaftlichen Gegenwart gesetzt werden kann.

In der Diskussion zwischen den »Freundinnen« und Hannes Giessler ging es überraschenderweise lange Zeit vor allem um Nebensächlichkeiten. Die Arbeitszeitrechnung, die Stundenzettel – und bräuchte man nicht im Kommunismus eine ganz neue Technologie, deren Gestalt nicht von den ausbeuterischen Zwecken des Kapitalismus bestimmt ist? Ja, klar. Aber angesichts der anderen Probleme, die der Kommunismus mit sich bringt, wäre es ja schon mal ein großer Schritt, die Fließbänder langsamer laufen zu lassen, den Arbeitstag zu verkürzen und den Arbeiterinnen in den Produktionsstätten das Sagen zu geben.

Gegen Ende der Debatte wurden die zentralen Probleme immerhin angedeutet. Um einen Produktionsprozess zu planen, in den zum Beispiel eine überregionale Eisenbahn, ein Hafen, verschiedene Rohstoffquellen und das Ausbildungswesen einbezogen sind, braucht es Kenntnisse, die an den einzelnen Produktionsorten nicht vorliegen. Was bedeutet das für die Arbeit von Räten? Die »Freundinnen und Freunde« deuten das Problem in ihrem Text an, lassen es aber gleich wieder fallen und vermitteln die Hoffnung, dass es um so viele Fälle nicht gehen möge. Wirklich überzeugend ist das nicht.

Giessler wiederum spricht aus, welche Konsequenz er für eine Planwirtschaft sieht: eine Vielzahl von Verwaltungsfunktionen, »nicht nur solche, die jetzigen Staatsfunktionen analog wären, sondern auch solche, die neu hinzu kämen und mehr Staat (oder Institutionen, die diesem analog sind) erforderten«.

Nun kann man sich trefflich streiten über Möglichkeiten und Grenzen einer regionalisierten Produktion, die zentrale Kompetenzen näher zu den Produzenten holt. Aber das »Staatsproblem« ist viel umfassender. Ist das, was in einer Fabrik passiert, nur von den dort Arbeitenden zu bestimmen? Geht es nicht auch Konsumenten, Anwohnerinnen, Leute in der Zulieferindustrie an? Wie geht man mit Interessengegensätzen um? Kann zum Beispiel ein Patientenrat auf Augenhöhe mit den Arbeiterinnen einer Arzneimittelfabrik über schnellere Lieferungen oder Qualitätsverbesserungen verhandeln?

Was bei den »Freundinnen und Freunden« erkennbar wird, im Text wie in der Diskussion, ist die Sehnsucht nach der Auflösung aller Widersprüche, der Wunsch, mit einem po­litischen Akt wie einer Revolution nicht nur der Gesellschaft eine ökonomische Grundlage zu geben, die we­niger absurd als der Kapitalismus ist, sondern zugleich mit der Ausbeutung auch jede Herrschaft zu überwinden, alle Macht, am besten jede Form von Gewalt. Das ist eine Überfrachtung des Revolutionsbegriffs und ein frommer Wunsch. Dass diese Tendenz Texten wie dem über die »Weltcommune« anzumerken ist, gibt ihnen eine Entrücktheit, die ihrer Überzeugungskraft nicht zuträglich ist.

Giessler deckt solche frommen Wünsche gnadenlos auf, weswegen sich die Lektüre seines Buchs auch dort lohnt, wo er nicht recht hat. Wenn er sagt, dass der Kommunismus staatsähnliche Institutionen brauche, denkt er wahrscheinlich an so etwas wie die staatliche Plankommission der DDR plus Nationale Volksarmee. Das offenbart, wenn der Eindruck nicht trügt, ­einen Mangel an utopischem Sinn, und es liegt nahe, dass er dann lieber dem Kommunismus abschwört. Doch nur, wenn man dem argumentativ etwas entgegenzusetzen hat, kann man heute noch Kommunist sein.

Eine gesamtgesellschaftliche Planung, die letztlich Weltmaßstab annimmt, ist ohne ein hierarchisches Verhältnis zwischen Institutionen nicht denkbar. Es muss Institutionen geben, die Informationen sammeln, auswerten und verbreiten (alleine das ist schon Macht) und die in Streitfällen verbindliche Entscheidungen treffen, zumindest so lange, bis die gesellschaft­liche Diskussion hinterhergekommen ist. Was die Institutionen jeweils dürfen, muss kodifiziert sein, und das nennt man dann Recht.

Die Geschichten aus dem nachrevolutionären Russland, wie Giessler sie noch einmal erzählt, von Bewaffneten, die mit dem Gewehr in der Hand Lebensmittel aus den Dörfern holen, wenn die Dorfkomitees das Getreide nicht herausrücken, sind eine unpassende Bebilderung solcher sinnvollen Unter- und Überordnungsverhältnisse. Wer sich nicht vorstellen kann, dass Gremien mit unterschiedlichen Entscheidungskompetenzen miteinander agieren können, ohne im Konfliktfall die Rote Armee zu rufen, sollte nicht bloß Russland 1918 studieren, sondern die Arbeitsteilung beispielsweise zwischen Landkreisen und Gemeinden im Sauerland anschauen. Okay, kleiner Scherz, aber es ist was Wahres dran.

Auf dieser Grundlage könnte es dann um die wichtigen Fragen gehen: Wenn Gesellschaftlichkeit notwendig mit Macht über Menschen einhergeht und auch der Kommunismus deshalb keine machtfreie Gesellschaft sein kann – wie ist diese Macht besser als im Kapitalismus zu verteilen und zu kon­trollieren? Welche Instrumente der Gewaltenteilung, der checks and balances sind für einen »Verein freier Menschen« geeignet? Von Ämterrotation über das imperative Mandat bis zur Wählbarkeit aller Funktionsträger gibt es unzählige Konzepte, die unter kapi­talistischen Bedingungen keine Chance haben und auch im Realsozialismus nie eine hatten, weil sie ihrem Gehalt nach Sand im Getriebe sind und ökonomischen wie politischen Konkurrenzbedingungen nicht standhalten. Eine Revolution, die zuallererst das »automatische Subjekt« (Marx), die Kapital­verwertung, aus der Welt schaffte, würde für solche Konzepte erstmals Entfaltungsraum schaffen.

Das wäre vielleicht nicht die endgültige Versöhnung mit allem – aber schon eine ganze Menge.

 

Hannes Giessler Furlan: Verein freier Menschen? Idee und Realität kommunistischer Ökonomie. Lüneburg 2018, 345 Seiten, 28 Euro
 

www.kosmoprolet.org/de/umrisse-der-­weltcommune