Gewerkschaften in Israel

Am Anfang war der Streik

In Israel versucht der kleine Gewerkschaftsbund Koach la’Ovdim, Arbeiterinnen und Arbeiter unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen und vermehrt auch prekär Beschäftigte zu organisieren.

»Entschuldige die Verspätung!« Etwas gestresst trägt Itamar Pirhi sein Fahrrad in die fast menschenleere Büroetage des Gewerkschaftsbunds Koach la’Ovdim (Macht den Arbeitern). Nein, er komme nicht von der großen feministischen Demonstration, die nur wenige Meter entfernt vor dem Kirya Tower stattfindet, sagt Pirhi. Fast alle Mitarbeiter des kleinen israelischen Gewerkschaftsbunds lassen an diesem Vormittag ihre Arbeit ruhen, um vor dem Regierungsgebäude in Tel Aviv gegen die starke Zunahme häuslicher Gewalt zu protestieren. Pirhis Zeit ist dafür zu knapp. Denn er ist schon wieder auf dem Weg zum nächsten Termin ganz im Norden Israels, in Safed, wo er die Arbeiter eines Schlachtbetriebs berät.

Bei Koach la’Ovdim engagiert sich Pirhi seit Jahren ehrenamtlich. An der Gewerkschaftsarbeit schätzt der 44jährige Filmemacher den klaren Fokus: »Wir wollen die Situation der Arbeiter in Israel verbessern – egal ob diese ­säkular, traditionell, arabisch oder jüdisch sind.« Der Termin in Safed sei dennoch besonders, denn die Arbeiter sind orthodox – und möchten, dass der Konflikt nicht vor einem weltlichen Arbeits-, sondern vor einem Rabbinatsgericht beigelegt wird. Ob er, der säkulare Israeli, gut mit den Orthodoxen zurechtkomme? »Klar«, antwortet Pirhi pragmatisch. »Wir arbeiten eng und auf Augenhöhe zusammen.« Die zahlreichen Gruppenfotos in den Büroräumen von Koach la’Ovdim vermitteln keinen gegenteiligen Eindruck.

Insgesamt repräsentiert der Verband 35 000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Etwa 40 Prozent davon sind orthodoxe Jüdinnen und Juden, weitere 40 Prozent sind arabische Israelis sowie Araberinnen und Araber aus Ostjerusalem. Gerade diese Gruppen arbeiteten oft in prekären Beschäftigungsverhältnissen, sagt Reuma Schlesinger eine Woche später. Als Koordinatorin für die Aktivitäten in der Region Tel Aviv-Zentrum ist die 34jährige derzeit für 30 Gewerkschaften zuständig, ein Großteil davon in den Bereichen weiterführende Schulen und Kinderbetreuung. Bis auf wenige Ausnahmen erfolgt in Israel die gewerkschaftliche Organisation nicht nach Branchen, sondern in den einzelnen Betrieben.

»Wir wollen die Situation der Arbeiter in Israel verbessern – egal ob diese säkular, traditionell, arabisch oder jüdisch sind.«
Itamar Pirhi, ehrenamtlicher Mitarbeiter von Koach la’Ovdim

Schlesinger zeigt auf die vielen Pfeile und Verbindungslinien auf dem Whiteboard, als sie anfängt, von den Zielen und Strategien ihrer Abteilung zu berichten. Die nachhaltige Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften sei ihr besonders wichtig. Man wolle schließlich nicht nur Feuerwehr spielen, wenn es brennt. Schlesinger ist an diesem Tag allein in ihrem Büro, ihre Kollegin ist im Außeneinsatz. Die Organisation und Vertretung prekär beschäftiger, häufig scheinselbständiger College-Lehrkräfte steht an. Es ist eine enorm wichtige Angelegenheit für den Gewerkschaftsverband – mit offenem Ausgang.

 

Vorbild für Arbeitgeber

Die Proteste gegen häusliche Gewalt sind vorerst vorbei, in der Büroetage von Koach la’Ovdim geht es wieder hektisch zu. Fast alle Türen stehen offen, Mitarbeiter und Aktivisten gehen ein und aus, klopfen an die Türen, um Bestellungen für das Mittagessen anzunehmen. »Wir sind alle zugeschüttet mit Arbeit und müssen deshalb auch ein bisschen aufpassen, uns nicht zu übernehmen«, sagt Schlesinger. »Zur Not müsst ihr einfach selbst streiken«, kommentiert Pirhi, der auch wieder da ist.

Das ist offenbar ein running gag beim Gewerkschaftsverband, und eine Steilvorlage für ­einen scherzhaft-freundschaftlichen Schlagabtausch zwischen den beiden.

Schlesinger hebt die guten Arbeitsbedingungen bei Koach la’Ovdim hervor, die vielen der im Verband organisierten Gewerkschaften als Modell für eigene Verhandlungen nahegelegt werden. Es gibt unter anderem ein für alle Positionen einheitliches Monatsgehalt in Höhe von 10 000 Schekel (rund 2 427 Euro), Rentenzahlungen, Weiterbildungsangebote, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ab dem ersten und nicht erst ab dem dritten Tag sowie doppelt so viele bezahlte Urlaubstage wie die gesetzlich vorgeschriebenen zwölf.

»Gerade die besonderen Bedarfe von Frauen werden stark berücksichtigt«, sagt Schlesinger. Sie nennt unter anderem den um eineinhalb auf viereinhalb Monate verlängerten Mutterschutz und bezahlte Taxifahrten für längere, potentiell gefährliche Heim­wege. Das sei auch Ergebnis der Arbeit des verbandsinternen Frauennetzwerks Koach la’Ovdot, das gezielt feministische Themen anspricht. 60 Prozent der Belegschaft von Koach la’Ovdim sind weiblich. Frauen sind in allen ­Positionen vertreten.

 

Bereit zum Arbeitskampf

Ami Vatury kommt gerade aus einer Haushaltssitzung und lässt für ein Interview seine Mittagspause ausfallen. Stattdessen serviert der Generalsekretär von Koach la’Ovdim Salzstangen und Nescafé. Der 52jährige hat den Gewerkschaftsverband 2007 mitgegründet, kurz zuvor hatte er einen Streik von etwa 200 Zeitarbeitern in der Gepäckabfertigung des Ben-Gurion-Flughafens in Tel Aviv initiiert.

»Uns gelang es damals, den Flughafen für vier Tage lahmzulegen und so die geplante Kündigung zahlreicher Kollegen zu verhindern«, erzählt Vatury. Unterstützung vom eigentlich zustän­digen großen Gewerkschaftsdachverband Histadrut gab es damals nicht. Dieser und ähnliche Arbeitskämpfe prekär Beschäftigter hätten Vatury und anderen Mitstreiterinnen und Mitstreitern deutlich gemacht, dass eine Alternative zur bisherigen Gewerkschaftsvertretung geschaffen werden müsse. Eine entsprechend zentrale Rolle nimmt der Flughafenstreik in der Gründungserzählung des kleinen ­Verbands ein.

»Gerade die besonderen Bedarfe von Frauen werden stark berück­sichtigt.«
Reuma Schlesinger, Koordinatorin für die Region Tel Aviv-Zentrum bei Koach la’Ovdim

Koach la’Ovdim versteht sich seit der Gründung als demokratische Organisation, die sich auf Arbeitskämpfe konzentriert, um die sich die Histadrut kaum kümmert, etwa auf die von Reinigungskräften, prekär Beschäftigten im Bildungssektor oder Busfahrern. Rund 20 Prozent der zumeist arabischen Fahrerinnen und Fahrer öffentlicher Busunternehmen sind bei Koach la’Ovdim organisiert. »Unsere Abkommen in diesem Bereich sind die besten«, sagt Vatury stolz.

Im öffentlichen Transportwesen habe der Verband in den vergangenen Jahren für einen bedeutenden Anstieg der Gehälter gesorgt. Dies sei auch Resultat der kämpferischen Ausrichtung des Verbands. Vatury zufolge binde der zentralistische Verband Histadrut die Beschäftigten nur unzureichend ein und vertrete deren Interessen häufig zu kompromissbereit. Lange Zeit habe sich der traditionsreiche Dachverband zudem mit seinem Bestand zufriedengegeben und sei kaum jenseits des öffentlichen Sektors, der Telekommunikation und der Häfen tätig gewesen.

Vor einigen Jahren gründete die Histadrut jedoch eine Abteilung zur Gewinnung von Neumitgliedern. Seitdem rekrutiert der Dachverband auch über seine klassischen Bereiche hinaus Mitglieder. Das sei nicht nur in Reaktion auf die erfolgreiche Arbeit von Koach la’Ovdim geschehen, sagt Lior Svedlo, der bei der Histadrut für den Bereich Gastronomie zuständig ist. Der seit einigen Jahren zu beobachtende Bedeutungszuwachs von Gewerkschaften in Israel sei auch auf die Sozialproteste von 2011 zurückführen.

Dass in ganz Israel wochenlang bis zu 400 000 Menschen auf die Straße gegangen seien, habe für einen spürbaren Schub an Neumitgliedern gesorgt. »Das ist weltweit einzigartig«, so Svedlo mit einem Leuchten in den Augen. Schwerpunkte seiner Arbeit sind die Unterstützung bei der Bildung neuer Gewerkschaften und die arbeitsrechtliche Beratung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Derzeit sind einige Tausend der etwa 200 000 Beschäftigten im Gastronomiebereich in der Histadrut organisiert.

 

Gewerkschaften gegen Israel

Im brutalistisch-monumentalen Hauptsitz der Histadrut in Tel Aviv sitzt Avital Shapira. Auch sie betont im Gespräch mehrfach die große Bedeutung der Proteste von 2011 für die gewerkschaftliche Organisation. Sie seien ein Beispiel für den politisch dynamischen Charakter der israelischen Gesellschaft, der von Außenstehenden häufig übersehen werde. In ihrem Büro findet sich neben Kängurus, »Be Berlin«-Bären und anderen Gastgeschenken auch eine während der Bar Mitzwa ihres Sohnes angefertigte Zeichnung, auf der sie Luftballons mit den Buchstaben »BDS« zersticht. »Der Zeichner sollte darstellen, was ich beruflich so mache – gut getroffen, oder?« sagt Shapira selbstbewusst.

Als Leiterin der Abteilung für internationale Beziehungen hat Shapira den Kampf gegen die antiisraelische Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) zu einer ihrer zentralen Aufgaben gemacht. Denn vor allem in internationalen Gewerkschaftskreisen stößt BDS auf viel Zustimmung.

Rhetorisch versiert kritisiert Shapira die Forderung nach einem ­sogenannten Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge und deren Nachfahren ebenso wie die Perfidie des von der Kampagne vertretenen Apartheidsvorwurfs gegen Israel. »BDS misst mit zweierlei Maß und dämonisiert ­Israel als größtes Übel in der Region«, so Shapira. »Kritik, auch an der Histadrut, ist ja stets willkommen – aber bei BDS werden Grenzen überschritten.« Letztlich gehe es der Kampagne um die Zerstörung Israels.

Besonders ärgert Shapira, dass sich die Kampagne als propalästinensisch geriere. Dabei werde eine Verschlechterung der sozialen Lage von Palästinenserinnen und Palästinenser in Kauf genommen. Ein Beispiel dafür ist die Schließung des Werks des israelischen Unternehmens Soda Stream im Westjordanland nach BDS-Protesten, wodurch viele palästinensische Beschäftigte ihre Stelle verloren.

Auch würden die langjährige, gute Zusammenarbeit mit dem palästinensischen Gewerkschaftsdachverband PGFTU und der Einsatz der Histadrut für die Rechte palästinensischer Bauarbeiter übersehen, so Shapira. In politisch festgefahrenen Zeiten, in denen eine Zweistaatenlösung weit entfernt scheine, sei ein gewisses Maß an Pragmatismus schlicht notwendig.

Stolz deutet Shapira auf Kopien von Kooperationsabkommen zwischen der Histadrut und der PGFTU. Seit 2008 verpflichtet sich die Histadrut, die Hälfte der Mitgliedsbeiträge palästinensischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an die PGFTU zu überweisen. Shapira tippt mehrfach auf das Logo der PGFTU. Darauf ist ein Gebiet mit Namen Palästina zu erkennen, der Staat Israel fehlt. »Natürlich sind wir darauf nicht abgebildet«, sagt sie. Ihrer Stimme ist eine Mischung aus Empörung und Ernüchterung anzuhören.

In der kleinen Büroetage von Koach la’Ovdim scheinen derart staatstragende Fragen weit entfernt. Auf die Frage, ob der kleine Verband bisher von BDS angegriffen worden sei, antwortet Vatury in seiner trockenen Art: »Wenn die sich weigern, mit uns zu sprechen, dann sollen sie es halt einfach bleiben lassen.« Koach la’Ovdim scheint sich diese Haltung leisten zu können. Austausch mit Gewerkschaften aus anderen Ländern gibt es zwar, jedoch nicht in besonders großem Umfang. Zu wichtig ist die Arbeit an Ort und Stelle, für die alle Kräfte gebündelt werden. Deshalb sei Koach la’Ovdim von der BDS-Kampagne weitgehend verschont geblieben, erzählt Vatury. »Tschüss!« ruft Pirhi in die Büroetage hinein. Er ist wieder einmal spät dran, muss los nach Safed. Dort stehen weitere Konsultationen an.