EU-freundliche Abgeordnete ­wollen in Großbritannien eine neue Partei der Mitte gründen

Austreten gegen den Austritt

Lange hatten britische Medien spekuliert und Gerüchte verbreitet, dann geschah es wirklich. In der vergangenen Woche traten zunächst sieben Abgeordnete von Labour aus der Partei und Fraktion aus. Kurz darauf taten es ihnen drei Konservative gleich. Noch zwei weitere Austritte aus Labour folgten bis zum Ende der Woche. Zusammen bildeten elf der Abgeordneten eine neue Fraktion, die Unabhängige Gruppe (The Independent Group, TIG). Bisher ist TIG keine Partei, aber es gibt bereits eine Website, auf der sich die Gruppe klar positioniert: Das britische Parteiensystem funktioniere nicht mehr, heißt es dort, und extreme Kräfte hätten Labour und die Konservativen gekapert. Die elf Mitglieder der Gruppe eint vor allem ihre Ablehnung des EU-Austritts. Viele von ihnen arbeiten seit Monaten gemeinsam in der überparteilichen Kampagne für ein zweites Referendum, der People’s Vote Campaign. Die Parteiaustritte zeigen offenbar bereits Wirkung: Anfang dieser Woche erklärte die Parteiführung von Labour offiziell ihre Unterstützung für die Kampagne.

Alle neun ehemaligen Labour-Abgeordneten beklagen eine immer autoritärer und sektie­rerisch werdende Stimmung in der Partei, in der extreme Linke das Ruder übernommen hätten.

Vor allem für die drei ehemaligen Konservativen ist der Wunsch nach einem Verbleib in der EU der wichtigste Grund für den Parteiaustritt. Anna Soubry, eine der prominentesten Politikerinnen, die den EU-Austritt ablehnen, hatte bereits mehrere Male im Parlament gegen die eigene Regierung gestimmt. Wie auch ihre Kolleginnen ­Sarah Wollaston und Heidi Allen beklagte sie sich über den Einfluss der Befürworter eines »harten Brexit«, eines Austritts ohne Abkommen, vor allem in der European Research Group (ERG) um den Investmentbanker Jacob Rees-Mogg. Die ERG tritt für Kompromisslosigkeit gegenüber der EU ein. Einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU am 29. März, dem bislang für den Austritt festgelegten Datum, hält die ERG nicht nur für undramatisch, sondern sehnt ihn geradezu herbei. Nach Berechnungen des britischen Finanzministeriums brächte ein unge­regelter Austritt im März schwere Wachstumseinbußen, den Zusammenbruch der ohnehin schwächelnden britischen Industrie und einen Verfall des Pfundes mit sich. Der ERG zufolge wäre so ein Schock indes hilfreich für eine radikale Erneuerung der britischen Ökonomie, wie die Gruppe sie sich wünscht: niedrige Steuern, geringe Regulation und ein Fokus auf Handel und Finanzdienstleistungen. Die gesellschaftlichen Folgen sind für solche Austrittbefürworter zweitrangig: Der Hedgefondsmanager und Multimillionär Cris­pin Odey, ein prominenter Befürworter eines EU-Austritts ohne Vertrag, spekulierte bereits vor dem Referendum 2016 erfolgreich auf einen Wertverlust des britischen Pfunds. Nun hat er sein Geld wieder auf eine Schwächung der britischen Wirtschaft gesetzt, die er selbst vorantreibt.

Für moderate Konservative und die meisten anderen Abgeordneten ist ein Austritt ohne Abkommen ein Schreckensszenario, das unbedingt verhindert werden muss. Theresa May, die 2016 als Kompromisskandidatin der ERG und der moderaten Konservativen Premierministerin wurde, hält derweil an der Möglichkeit eines Austritts ohne Vertrag fest.

Der moderate Flügel der Konservativen beginnt nun zu rebellieren. Neben den drei abtrünnigen Abgeordneten verlangen mittlerweile auch mehrere Mitglieder aus Mays Kabinett offen, einen Austritt ohne Vertrag auszuschließen. Soubry machte vergangene Woche May persönlich für die kompromisslose Haltung in der Austrittsfrage verantwortlich: May habe »ein Problem mit Migration«. In ihrer Ablehnung von eher auf Kompromisse abzielenden Austrittsvarianten sei es May stets darum gegangen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu beenden. Soubry ist eine enge Vertraute des ehemaligen Finanzministers George Osborne. Dieser ist mitt­lerweile der Herausgeber der Londoner Zeitung Evening Standard und hatte das harte Sparprogramm der Regierung unter David Cameron entworfen. Er gehört zum proeuropäischen, wirtschaftsliberalen und migrationsfreundlichen Flügel der Konservativen. Mit May war er unter anderem aneinandergeraten, als deren Einwände gegen Erleichterungen bei der Visavergabe für indische Staatsbürger die Verhandlungen für ein Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien 2013 zum Scheitern brachten.

Zwischen pro- und antieuropäischen Konservativen versucht May eigene ­Akzente zu setzen. Sie lehnt die harte Sparpolitik der Vorgängerregierung unter Cameron ab und hat wiederholt neue Schulden aufgenommen, zum Beispiel um das Gesundheitssystem besser zu finanzieren. Staatliche Intervention ist dabei strikt an Nationalismus geknüpft. Dennoch ist sie beim konservativen Flügel unpopulär. Ökonomische Hilfen für den strukturschwachen Norden Großbritanniens, wie von May geplant, wären mit der ERG nicht zu machen und bei einem ungeregelten EU-Austritt auch kaum zu ­finanzieren. Das taktische Bündnis zwischen May und der ERG basiert letztlich auf einem rhetorischen britischen Nationalismus beziehungsweise Unionismus und der Ablehnung von Migration. In konservativen Wahlkreisen kann ein solches Programm politische Mehrheiten finden, die die Schocktherapie der ERG allein unter keinen Umständen hätte.

Mays Eintreten für etwas mehr Sozialstaat ist auch eine Reaktion auf den ­Erfolg von Labour unter Jeremy Corbyn bei den Wahlen 2017. Sein Programm ist eigentlich nicht sonderlich radikal: Zwar sollen einige privatisierte ehe­malige Staatsunternehmen wieder verstaatlicht werden und antizyklische Wirtschaftspolitik sowie eine aktive Industriestrategie sollen besser bezahlte Arbeitsplätze schaffen. Doch wie bei May hat diese Politik oft nationalistische oder regionalistische Töne und geht mit Skepsis gegenüber der EU und Migra­tion einher. In gewissen Kreisen wird die EU als Interessenvertreterin eines internationalen Kapitalismus charakterisiert. Für harte Austrittsbefürworter bei Labour wie Seumas Milne, den einflussreichen Kommunikationsleiter Corbyns, sind EU und Nato Teil einer von den USA dominierten Allianz, die den internationalen Kapitalismus ­global verbreitet. Dagegen wird ein britisch-sozialistischer Nationalismus gestellt, der neue globale Allianzen sucht, allen voran mit Venezuela, dem Iran und Palästina.

Es ist daher kein Zufall, dass neben der Ablehnung eines EU-Austritts der wachsende Antisemitismus in der Labour-Partei ein wichtiger Grund für die Austritte der vergangenen Wochen war. Die Abgeordnete Luciana Berger war seit langem persönlichen Angriffen ausgesetzt, andere Labour-Mitglieder hatten sie wiederholt als »zionistische Extremistin« oder »Abgeordnete für ­Liverpool Haifa« beschimpft. Berger sagte, sie sei ausgetreten, weil Corbyn nicht genug tue, um diese Kräfte aus der Partei zu drängen. Labour sei ­»institutionell antisemitisch«.

Alle neun ehemaligen Labour-Abgeordneten beklagen eine immer autoritärer und sektiererisch werdende Stimmung in der Partei, in der extreme ­Linke das Ruder übernommen hätten. Die ausgetretenen Abgeordneten ge­hören meist eher dem rechten Flügel von Labour an und sind wie beispielsweise Chuka Umunna langjährige Kritiker Corbyns.

Der stellvertretende Parteivorsitzende Tom Watson hat nun die Gründung ­einer sozialdemokratischen Gruppe innerhalb von Labour angekündigt. Der Plan ist, weiteren Austritten zuvorzukommen und den Einfluss moderater Kräfte in der Partei zu stärken. Wenig attraktiv sind indes sowohl TIG als auch Watsons Gruppe für proeuropäische Linke in der Partei, die allerdings von den Austritten profitieren konnten. Denn die Unterstützung der Parteiführung für ein zweites Referendum ist wohl als Versuch zu verstehen, potentiellen Unterstützern von TIG entgegenzukommen.

Für TIG stellt sich nun die Frage, welche politischen Positionen die Gruppe neben der Ablehnung eines EU-Austritts vertreten kann. Nicht zuletzt wäre dies wohl die Nostalgie für die Hochzeit des britischen Neoliberalismus unter New Labour. Allerdings bleibt offen, wie im Mehrheitswahlrecht in Großbritannien die taktischen Chancen für TIG stehen. Noch bei den Wahlen 2017 stimmten über 80 Prozent der britischen Wählerinnen und Wähler für die Konserva­tiven oder Labour – eine für westeuropäische Verhältnisse außergewöhnliche Konzentration der Stimmen bei den alten »Volksparteien«. Doch dies mag auch in Großbritannien eher eine Ausnahme als die Regel gewesen sein. 2010 hatten die Liberaldemokraten über 50 Sitze gewonnen. Die schottischen Nationalisten sind seit 2015 mit über 30 Abgeordneten im Unterhaus ver­treten. Sogar die Grünen schafften es 2010 zum ersten Mal, einen Wahlkreis zu gewinnen, den sie bislang auch gehalten haben.

Die Frage ist, in welchen Wahlkreisen und unter welchen Bedingungen eine neue proeuropäische, wirtschaftsliberale Partei gewinnen könnte. Typische Kandidaten wären urbane, Labour-orientierte Wahlkreise mit relativ vielen konservativen Wählern, wie zum Beispiel die Außenbezirke von London. Auch im ländlichen Südwesten, wo Labour traditionell keine Rolle spielt, könnte die neue Gruppe Sitze gewinnen, insbesondere wenn sie, wie bereits ­diskutiert wird, mit den Liberaldemokraten zusammenarbeitet. Sollte May weiter an einem EU-Austritt notfalls ohne Vertrag festhalten, könnte die Gruppe allerdings auch ohne Wahlen sehr bald deutlich stärker werden.