In Estland haben die oppositionellen Liberalen die Parlamentswahlen gewonnen

Exklusiv für Esten

Bei den Parlamentswahlen in Estland ist die oppositionelle liberale Reformpartei stärkste Kraft geworden. Auch die migrantenfeindliche Estnische Konservative Volkspartei erzielte ihr bislang bestes Ergebnis. Doch fast alle Parteien warnen vor zu viel Zuwanderung.

Es war ein deutlicher Sieg für die Opposition. Bei den Parlamentswahlen in Estland am Sonntag wurde die oppositionelle Reformierakond (Reform­partei) mit 28,9 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Im neuen Riigikogu, dem estnischen Parlament, wird die liberale Partei mit ihrem bisher besten Wahlergebnis 34 der insgesamt 101 Abgeordneten stellen. Als sicher gilt, dass die Vorsitzende der Partei, Kaja Kallas, neue Ministerpräsidentin wird. Sie wäre die erste Regierungschefin in dem baltischen Staat, der seit 2016 mit Kersti Kaljulaid bereits eine Frau als Präsidentin hat.

Die Reformpartei hat mehrere mögliche Koalitionspartner zur Auswahl. Bereits am Wahlabend betonte Kallas im Interview mit der estnischen Tageszeitung Postimees, dass sie eine Dreierkoalition aus Reformpartei, der nationalkonservativen Partei Isamaa (Vaterland) und der Sozialdemokratischen Partei (SDE) favorisiere. Es wäre eine Neuauflage der Koalition, die bereits von April 2015 bis November 2016 regierte. Die damalige Regierung zerbrach, als sich SDE und Isamaa aus der Regierung zurückzogen und mit der Kes­ker­a­kond (Zentrumspartei) eine neue Koalition bildeten. Als Juniorpartner in wechselnden Regierungen sind Isamaa und SDE inhaltliche Flexibilität gewohnt, wobei die Sozialdemokraten in der vergangenen Regierung durchaus einige Erfolge in der Sozialpolitik erreichen konnten. So wurden das Kindergeld und die Bruttolöhne der Angestellten von Kindergärten, Schulen und Universitäten deutlich erhöht, zum Teil um etwa 30 Prozent. Die SDE erzielte dennoch ein historisch schlechtes Wahlergebnis von 9,8 Prozent und verlor ein Drittel ihrer Parlamentssitze. Das dürfte sie, darauf deuten die ersten Reaktionen nach der Wahl hin, aber nicht davon abhalten, erneut als Mehrheitsbeschafferin für eine nationalli­berale Regierung zu fungieren.

Alternativ wäre eine »Große Koalition« aus der Reformpartei und der Zentrumspartei möglich, die mit 23,1 Prozent der Stimmen das zweitbeste Ergebnis holte. Insbesondere der Umgang mit der russischsprachigen Minderheit, die etwa 25 Prozent der estnischen ­Bevölkerung ausmacht, könnte dabei aber zu einem Hindernis werden. So forderte die Reformpartei im Wahlkampf die Durchsetzung des Estnischen als ­alleiniger Sprache im Bildungssystem vom Kindergarten an und sprach sich für die Beibehaltung des restriktiven Zugangs zur Staatsbürgerschaft aus. Der bisher regierenden Zentrumspartei warf sie Klientelpolitik zugunsten der russischsprachigen Estinnen und Esten vor, die tatsächlich die größte Wählerbasis der Partei stellen.

An der grundsätzlichen prowestlichen, wirtschaftsliberalen und gesellschaftspolitisch moderat konservativen Ausrichtung der estnischen Politik, die vor allem makroökonomisch große Erfolge vorzuweisen hat, dürfte sich unabhängig von der Regierungskoalition kaum etwas ändern. Fraglich ist hingegen, wie die Migrationspolitik der neuen Regierung aussehen wird. Während der ökonomisch wichtige IT-Bereich von der Anwerbung aus anderen Ländern profitiert und es in der Hauptstadt Tallinn eine stetig wachsende inter­nationale Einwohnerschaft gibt, ist die Angst vor »Überfremdung« in Estland virulent. Dass die Nation vor zu viel Zuwanderung beschützt werden müsse, um die »estnische Ethnie« zu bewahren, ist weitgehend Konsens unter den im Parlament vertretenen Parteien.

Besonders deutlich wird dies allerdings bei der Estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE), die neben der ­Reformpartei als Siegerin aus der Parlamentswahl hervorging. Sie konnte ihr Ergebnis von 8,1 Prozent im Jahr 2015 auf 17,8 Prozent der Stimmen mehr als verdoppeln und wird nun 19 Abgeordnete stellen. Eine Forderung der Partei ist ein genereller Einwanderungsstopp. »Wir wollen nicht, dass Estland zur Mülltonne für die Überbevölkerung der Dritten Welt wird«, sagte der Parteivorsitzende Mart Helme im Januar der Tageszeitung Postimees. Im selben Interview bezeichnete er ein Schulbuch, in dem verschiedene Familienmodelle vorgestellt werden, als »Schwulenpropaganda« und forderte die Wiedereinführung der Todesstrafe für Mörder. Diese seien keine Menschen, sondern Tiere und müssten »ausgesondert werden«, das sei »vernünftig für das Wohlergehen der Gesellschaft«. Die EKRE erzielte das beste Wahlergebnis in der Geschichte der Partei, Helme erhielt die viertgrößte Anzahl an Stimmen aller Einzelkandidaten und sitzt künftig gemeinsam mit seiner Frau und seinem Sohn im Parlament. Zu einer ­Regierungsbeteiligung wird es dennoch nicht kommen, derzeit schließen alle weiteren Parteien schließen eine Zusammenarbeit mit der EKRE derzeit ­kategorisch aus.