Francesco Ciafaloni, Redakteur und Autor, über rechte Tendenzen in Italien und das Versagen der parlamentarischen Linken disko

»Die Lega bedient sich faschistischer Rhetorik«

Francesco Ciafaloni war lange Zeit politischer Redakteur des Verlags Einaudi. Dieser gehörte früher zu den wichtigsten italienischen linken Verlagen, wurde mittlerweile aber von Silvio Berlusconis Mediengruppe aufgekauft. Ciafaloni beobachtet seit langem die italienische Politik und stellt eine Faschisierung der Debatte fest, die er auch als ein Ergebnis gescheiterter linker Politik ansieht.
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Die beiden Regierungsparteien, die Lega unter dem Parteivorsitzenden Matteo Salvini und die Fünf-Sterne-Bewegung, bestimmen die politische Debatte in Italien. Wo ist die linke Opposition geblieben?
Die derzeitige politische Situation in Italien wurde zum großen Teil durch Fehler des Partito Democratico (PD) verursacht. Die größte Mitte-links-Partei hat über Jahre hinweg eine rechte Politik verfolgt und sich letztlich zum Selbstmord entschlossen. Weil die Politiker des PD den ärmsten Teil ihrer Wählerschaft enorm vernachlässigt haben, haben sich Arbeitslose und gering verdienende Angestellte andere Vertreter gesucht.

Können Sie das konkretisieren?
Ein gutes Beispiel ist die italienische Steuerpolitik: Im Gegensatz zu Frankreich und Deutschland wird in Italien das Erbe nicht mehr versteuert. Auch die Versteuerung der Immobilienvermögen wurde abgeschafft. In den vergangenen 25 Jahren wurde die höchste Steuerstufe von 75 auf 43 Prozent gesenkt, zugleich die niedrigste von zehn auf 23 Prozent erhöht. Das heißt, die Reichen wurden schrittweise bevorzugt, obwohl in der italienischen Verfassung ein auf Umverteilung basierendes Steuersystem verankert ist.

Waren das nicht Entscheidungen der Regierungen unter Silvio Berlusconi?
Ja, aber die Mitte-links-Kräfte haben diese neoliberalen Maßnahmen mitgetragen. Die Spitze des Partito Democratico (PD) hat sich davon überzeugen lassen, dass der Markt alles regele. Man dachte, dass, wenn die Reichen immer reicher würden, sich dieser Reichtum in der Gesellschaft verteile. Obwohl die meisten Studien beweisen, dass diese Trickle-Down-Theorie seit den fünfziger Jahren nicht mehr zutrifft.

Im PD gab es nun einen Wechsel an der Spitze. Der neue Vorsitzende Nicola Zingaretti hatte sich bei den Vorwahlen eindeutig gegen seine zwei Konkurrenten durchgesetzt. Wird sich die Partei jetzt neu ausrichten?
Mit Nicola Zingaretti sind viele Hoffnungen verbunden, da er dem linken Flügel des PD angehört und seine Wahl die Ära Renzi beendet. Leider waren Zingarettis öffentliche Auftritte bisher sehr enttäuschend. Er hat sich sofort mit seinem Parteikollegen Sergio Chiamparino getroffen, dem Präsidenten der Region Piemont. Chiamparino wird sich für die Regionalwahlen im Mai erneut aufstellen lassen und Zingaretti unterstützt ihn. Allerdings zeigt er seine Unterstützung, indem er ausdrücklich ein umstrittenes Großprojekt befürwortet, das Italien seit vielen Jahren beschäftigt, die Strecke für den Hochgeschwindigkeitszug TAV zwischen Turin und Lyon. Nicht nur das: Er hat die Gegner des Projekts als kriminell bezeichnet. Ich bin wie viele andere gegen den TAV, aus guten ökologischen und logistischen Gründen.

Gibt es keine bedeutenden linken Kräfte neben dem PD?
Die kleinen Parteien links vom PD sind politisch nicht relevant. Sie drehen sich in erster Linie um sich selbst und schaffen nicht, was die regierenden Parteien mittlerweile perfektioniert haben: Diese vertrauen auf Populismus und adressieren die Wählerschaft direkt.
Außerparteilich sind die Gewerkschaften nach wie vor wichtige linke Kräfte. Trotz der schwindenden Mitgliederzahlen und der Schwierigkeiten, prekäre Arbeiter zu integrieren, bleiben sie mit ihren 16 Millionen Mitgliedern ein gesellschaftlicher Riese. Der Anteil an Rentnern ist zwar sehr hoch, um die 50 Prozent, aber die Gewerkschaften leiden nicht unter Mitgliederschwund, wie ihn die Parteien gerade erleben. Und sie kümmern sich immer noch um die Gehälter, die Arbeitsplatzsicherheit und die Gesundheitsversorgung für die Arbeiter anstatt um die Gewinne der Arbeitgeber.

Im Februar haben die Regionen Abruzzen und Sardinien gewählt. Die Wahlen gelten als Stimmungstests für die Europawahl im Mai. Die Lega hat zwar klar gewonnen, die Mitte-links-Koalitionen haben aber besser abgeschnitten als erwartet. Wie soll man diese Ergebnisse interpretieren?
Sowohl in Sardinien als auch in den Abruzzen lösen nun rechte Koalitionen die Mitte-links-Regierungen ab. Die Allianz von Silvio Berlusconi, Matteo Salvini und den Faschisten von Fratelli d’Italia hat die Wahl gewonnen. Die gemäßigte Linke hat ungefähr ein Drittel der Stimmen erhalten.

Mehr als die Hälfte dieser Stimmen ging in den Abruzzen an die sogenannten liste civiche, die Bürgerlisten. Das sind politische Vertretungen lokaler Interessen, die mit dem PD koaliert haben. Diese liste civiche sind ein landesweites Phänomen, sie spiegeln aber nur zum Teil Protest gegen die Regierung wieder. Das zeigt auch, dass linke Forderungen nur begrenzt Zustimmung in der Gesellschaft finden.

Ich glaube, dass die Krise der Linken in Italien schlimmer ist als in anderen Ländern Europas. In anderen Ländern existieren wenigstens noch linke Parteien, die linke Politik entschlossener vertreten und in Zukunft gewinnen könnten. Das scheint in Italien mittlerweile sehr unwahrscheinlich.

Anfang März haben in Mailand Zehntausende unter dem Motto »Die Menschen zuerst« gegen die Politik der populistischen Regierung demonstriert. Hat sich an Ihrer Einschätzung durch diese Demonstration geändert?
Die Demonstrierenden haben gezeigt, dass es so etwas wie eine zivilgesellschaftliche Opposition gibt, die für universelle Werte und Solidarität steht. In der Vergangenheit hat es ähnliche Proteste in Turin gegeben, an denen sich viele jüngere Menschen beteiligten. Wir sind doch nicht so wenige, wie es scheint. Die Demonstration in Mailand war wichtig. Fraglich ist, ob sie langfristige Auswirkungen haben wird. Man darf zwar nicht verzweifeln, sich aber auch nicht täuschen lassen.

Haben die Linken zu viele rechte Argumente übernommen? Die öffentliche Debatte dreht sich häufig um das Thema Sicherheit.
Die öffentliche Wahrnehmung verbindet die Migration der vergangenen Jahre mit ansteigender Kriminalität. Die Linken haben es nicht geschafft, dieses rechte Narrativ zu entkräften, denn faktisch nimmt die Zahl der Gewalttaten in Italien nicht zu. Wenn es um das Thema Sicherheit geht, hätte sich die Linke auf die soziale Sicherheit konzentrieren sollen. Die Angst vor sozialem Abstieg im Land ist sehr groß. Den Arbeitsplatz zu verlieren, ist eine Frage der Sicherheit. Der demographische Wandel löst Unsicherheiten aus. Zum Beispiel werden in den nächsten fünf bis zehn Jahren sehr viele Ärzte in Rente gehen, ohne ersetzt zu werden. Das Gleiche passiert mit den Lehrern. Auch was das Pflegepersonal in den Krankenhäusern angeht, könnte die Situation katastrophal werden. Sehr viele von diesen Beschäftigten wurden in der Zeit des wirtschaftlichen Booms angestellt, gehen demnächst in Rente und werden in Zukunft fehlen.
Um diese Tatsachen geht es in der politischen Debatte derzeit nicht. Aber sie sind da, präsent. Die Unsicherheiten entstehen, weil man sich mit diesen fundamentalen Zukunftsfragen nicht aus­ein­andersetzt und keine Lösungen anbietet.

Vor mehr als zehn Jahren erschütterte eine Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt. Warum kam es nicht zu einer Gegenreaktion, die die Linke auch in Italien gestärkt hätte?
Die Finanzkrise hat Italien viel härter getroffen als andere Länder. Die Einkommen sind geringer geworden, vor allem bei denen, die in der Gesellschaft ganz unten stehen. In einer Wendezeit gibt es immer die, die ihr Kapital bewegen und der Krise entkommen können, und die, die arbeitslos sind oder sich mit immer größer werdendem Steuerdruck herumschlagen müssen. Der PD war nicht in der Lage, diese Situation zu nutzen, genau weil er die neoliberale Ideologie vertreten hat und immer noch vertritt, wie man es an seiner Steuerpolitik sehen kann.

Welche Szenarien zeichnen sich für die Europawahl in Italien ab?
Die Fünf-Sterne-Bewegung hat Schwierigkeiten, als Regierungspartei ihre Wahlversprechen einzuhalten. Deshalb wird sie voraussichtlich schlechter abschneiden. Es besteht das Risiko, dass rechtsextreme Parteien wie die Lega davon profitieren. Was sehr erschreckend ist, weil die Lega sich mittlerweile offen faschistischer Rhetorik bedient und dabei keine nennenswerten Gegenreaktionen auslöst. Matteo Salvini zitiert in aller Öffentlichkeit Mussolini und lässt sich mit »il capitano« ansprechen wie Zelea Codreanu, der faschistische Führer der rumänischen Eisernen Garde in den dreißiger Jahren.

Die Europawahl bereitet mir große Sorge. Für jemanden wie mich, der 1937 geboren ist, ist ein Krieg zwischen Europäern etwas Reales. Vor mehr als 70 Jahren gab es hier den Krieg zwischen Frankreich und Italien, deswegen ist für einen alten Menschen die Vorstellung einer echten Feindschaft zwischen den Staaten Europas etwas Furchterregendes.

Als die Grenzen Europas aufgehoben wurden, sind meine Frau und ich zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergefahren. Einfach so, weil man nun über die Grenze fahren durfte, ohne einen Pass vorzuzeigen. Wir dürfen das nicht rückgängig machen. Wenn man die Grenze am Brenner oder bei Mentone wieder schließt, weil man zu einer Gefahr stilisierte Migranten daran hindern möchte, nach Frankreich zu gelangen, dann sind wir als Europäer tot.