Ein politischer Balanceakt
Ein Feuerwerk erhellte den Beiruter Himmel am Abend des 31. Januar, dem Tag, an dem die Regierungsbildung im Libanon nach neun Monaten endlich zu einem Abschluss kam. Viele Menschen im Land atmeten auf. »Ein Baby wurde geboren, nach neun Monaten Schwangerschaft, darum habe ich nun Reispudding für meine Familie gekauft, um zu feiern«, twitterte der bekannte libanesische Fernsehjournalist Hassan Dia. In zahlreichen Beiruter Restaurants gab es an diesem Abend Mirli zu verbilligten Preisen. Das Reispuddinggericht wird üblicherweise nach der Geburt eines Kindes serviert.
Im Libanon keimte Optimismus auf, denn lange hatte das Fehlen einer Regierung die desolate Situation der libanesischen Wirtschaft noch verschärft. Nun, so die Hoffnung, könnten notwendige Reformen eingeleitet werden, damit das Land die internationale Unterstützung von der EU, den USA, Saudi-Arabien und der Weltbank bekommt, die bereits zugesagt wurde. Doch sie setzen voraus, dass der Libanon zunächst wirtschaftspolitische Reformen einleitet. Ziel ist eine Haushaltskonsolidierung mit einem Defizit von höchstens fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes in den nächsten fünf Jahren, durch gesteigerte Einnahmen mit Hilfe einer Steuerreform und von Ausgabenkürzungen. Insbesondere wird eine Reform des durch Korruption und Nepotismus aufgeblähten Regierungsapparats angestrebt. Dazu kommen Privatisierungsmaßnahmen im staatlichen Sektor; unter anderem verspricht man sich davon ein effizienteres Wasser-, Müll- und Energiemanagement. Derzeit fließen 25 Prozent der Haushaltsmittel in die Aufrechterhaltung der Stromversorgung des Landes – wobei Stromausfälle von drei bis zwölf Stunden täglich die Normalität sind.
Angesichts der desolaten Wirtschaftslage ist die Verzögerung der Regierungsbildung besonders problematisch, doch für die langwierigen Verhandlungen gibt es andere Gründe. Die politische Einflussnahme des Iran, der die Hizbollah finanziert und mit Waffen ausrüstet, sowie Saudi-Arabiens, das den libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri stützt, aber auch unter Druck setzt, gelten als externe Faktoren.
Libanons Krise hat verschiedene Facetten: politische Instabilität, Arbeitslosigkeit, die überall anzutreffende Korruption sowie die Folgen des syrischen Bürgerkriegs, der in den vergangenen sieben Jahren zu Exportverlusten von etwa 20 Milliarden US-Dollar geführt hat. Etwa eineinhalb Millionen Syrer sind in den Libanon geflohen, bei einer Bevölkerung von fünf Millionen hat das Land nun die höchste Flüchtlingsquote der Welt. Hinzu kommt eine Krise des Immobilien- und Bausektors, der 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet.
Die drei größten internationalen Rating-Agenturen, Fitch, Moody’s und Standard & Poor’s, stuften den Libanon in den vergangenen Monaten aufgrund des Ausbleibens notwendiger Wirtschaftsreformen herab und bescheinigten dem Land mangelnde Bonität. Die Zweifel an der Kreditwürdigkeit verstärken die Krise. Der Libanon hat die im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung dritthöchste Staatsverschuldung der Welt, 155 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (85 Milliarden Dollar). Schon jetzt wendet die Regierung 49 Prozent der Einnahmen zur Tilgung bestehender Kreditschulden auf. Hinzu kommt ein Staatsdefizit von derzeit rund 4,8 Milliarden Dollar. Mit 10,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ist das die neunthöchste Defizitquote weltweit. Die Weltbank prognostiziert für 2019 ein Wirtschaftswachstum von nur 1,3 Prozent.
Angesichts der desolaten Wirtschaftslage ist die Verzögerung der Regierungsbildung besonders problematisch, doch für die langwierigen Verhandlungen gibt es andere Gründe. Die politische Einflussnahme des Iran, der die Hizbollah finanziert und mit Waffen ausrüstet, sowie Saudi-Arabiens, das den libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri stützt, aber auch unter Druck setzt, gelten als externe Faktoren. Die schwierige Regierungsbildung steht im Zusammenhang mit der politischen Verfasstheit des Libanon selbst. Die politischen Institutionen beruhen auf einem fragilen konfessionellen Gleichgewicht. Die Verteilung von Ämtern unterliegt einem festgeschriebenen religiösen Proporz und reicht von der Staatsführung – der Präsident muss stets ein Christ, der Ministerpräsident ein Sunnit und der Parlamentssprecher ein Schiit sein – bis hinein ins Kabinett, ins Parlament und in den Beamtenapparat.
Seit der Wahl im Mai vergangenen Jahres hatte sich ein Machtkampf um Kabinettsposten abgespielt. Wahlsieger gab es am 6. Mai 2018 gleich mehrere. Präsident Michel Aoun erklärte seine Partei, die Freie Patriotische Bewegung (FPB), zur Siegerin. Tatsächlich ist sie mit 29 von 128 Sitzen die stärkste Partei im Parlament. Hassan Nasrallah eilte vor die Kameras, um den Sieg der von ihm geführten Hizbollah zu verkünden. Sie gewann zwar nur einen Sitz hinzu, vereinte aber mit 16,8 Prozent die meisten Wählerstimmen auf sich. Die Partei des Ministerpräsidenten Hariri hatte 40 Prozent ihrer Parlamentssitze verloren und kommt nun auf bloß 20 Sitze.
Trotzdem blieb Hariri im Amt, da der Posten des Ministerpräsidenten den Sunniten qua Verfassung zusteht und er die meisten sunnitischen Stimmen erhielt. Es gibt 30 Ministerposten, wobei eine Zweidrittelmehrheit im Kabinett für Gesetzesvorhaben notwendig ist. Hariri war bei der Regierungsbildung darauf bedacht, keiner Partei elf Ministerämter zuzugestehen, um keiner Partei die Blockade zu ermöglichen. Doch die FPB beharrte lange auf der Besetzung von elf Ressorts. Hariri gelang schließlich ein Kompromiss: Die FPB verzichtete auf einen Sitz im Kabinett und die Hizbollah erhielt das Gesundheitsministerium. Das Ressort ist mit dem vierthöchsten Budget ausgestattet und es ist zu befürchten, dass die Hizbollah das Geld zum Beispiel für ihren Einsatz in Syrien zweckentfremden könnte.
Eine erhebliche Machtverschiebung zugunsten der Hizbollah – und damit des Iran – fand dennoch nicht statt, das verhindert weiterhin vor allem der konfessionelle Proporz. Nach der Verfassung stehen den schiitischen Parteien nur insgesamt 27 Parlamentssitze zu, was die Hizbollah zu Kompromissen zwingt. Auch die »Partei Gottes« muss sich dem politischen System des Libanon anpassen, das zeigt der Fall Nawaf Mousawi. Nachdem der Hizbollah-Abgeordnete Ende Februar den 1982 vor seinem Amtsantritt ermordeten gewählten Präsidenten Bachir Gemayel beleidigt hatte, drohte die Partei Kata’ib, der Gemayel angehörte, mit Wiederbewaffnung. Die Hizbollah suspendierte ihren Abgeordneten und entschuldigte sich für den Vorfall.
Auch das Bündnis mit christlichen und sunnitischen Parteien gehört zur Politik der Hizbollah. Nur aufgrund ihrer interkonfessionellen Entente mit anderen Parteien in der sogenannten Allianz des 8. März gehört sie erstmals zur Regierungsmehrheit im Parlament. Ihre Stärke beruht auch auf der Mobilisierung der eigenen Klientel und ihrer militärischen Schlagkraft. Die Hizbollah ist seit Ende des Bürgerkrieges 1990 die einzige bewaffnete Miliz im Libanon. Sie verfügt über schätzungsweise 40 000 Kämpfer und 130 000 teils moderne Raketen. Hierin besteht die eigentliche Gefahr. Ihr Waffenarsenal und der von ihr geschaffene Parallelstaat bleiben eine fortdauernde Bedrohung für den Libanon und die Nachbarländer.
Nach dem innenpolitischen Kompromiss muss Hariri nun die außenpolitische Balance finden. Nach Bekanntwerden der Kabinettsbesetzung kritisierten mehrere Staaten die Übertragung des Gesundheitsministeriums an die Hizbollah. Die USA kündigten Gegenmaßnahmen an, sollte die Hizbollah staatliche Mittel tatsächlich zweckentfremden.
Aber an der Stabilität des Landes sind nicht nur die Libanesen interessiert. Eine schwere Krise bis hin zu einem Zerfall des Staates hätte vor allem für Europa Konsequenzen. Der gemeinsame Gipfel der Arabischen Liga und der EU Ende Februar und der anschließende zweitägige Besuch der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini im Libanon unterstreichen die Bedeutung der Mittelmeeranrainerstaaten und insbesondere des Libanon für die Europäische Union. Während die EU vor allem die Einreise von Flüchtlingen verhindern will, sind die USA und die Golfstaaten bestrebt, den Einfluss des Iran und damit der Hizbollah einzudämmen. Ob die US-Außenpolitik mit europäischer Unterstützung erfolgreich sein wird, ist fraglich. Eine Stärkung des Libanon bei gleichzeitiger Isolation der Hizbollah bleibt politisch extrem diffizil.