Detlev Claussen, Soziologe, im Gespräch über nationalistische Geschichtspolitik in Ungarn

»Entsolidarisierend wie nie zuvor«

Der Umgang mit dem 100. Jahrestag der Ausrufung der Ungarischen Räterepublik offenbart einmal mehr den Versuch der Regierung unter Viktor Orbán, eine homogene »Volksgemeinschaft« zu schaffen, kritisiert Detlev Claussen. Wie in anderen Ländern ersetze der Nationalismus das Klassenbewusstsein.
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Am 21. März 1919 wurde in Ungarn die Räterepublik ausgerufen, 100 Jahre später ist in Budapest eine autoritäre und völkisch-­nationalistische Regierung an der Macht, die die Erinnerung daran vollständig auslöschen will, indem sie flächendeckend entsorgt, was an die Republik erinnern könnte. Unter anderem wurde das Archiv des marxistischen Theoretikers Georg Lukács geschlossen, der in der Räterepublik als Volkskommisar für Unterrichtswesen zuständig war. Ein Stadtrat der ultranationalen und antisemitischen Partei Jobbik hat den Antrag eingebracht, das Denkmal aus dem Szent-István Park zu entfernen und durch eine Statue des Heiligen Stefan zu ersetzen. Der Rabbiner Joel Berger schrieb in der »Jüdischen Allgemeinen«, es sei of­fensichtlich, »dass die Demontage des Denkmals dem Marxisten ­Lu­kács und dem Juden Lukács gilt«. Um mit Lukács zu fragen: Welches Bewusstsein steht da­hinter?
Hier wird eine postkommunistische Geschichtspolitik betrieben, die dazu führt, die Erinnerung an die Räterepublik auszulöschen. Das Beunruhigende ist, dass hier eine Geschichte, die, in aller Ambivalenz, zu Ungarn gehört, einfach dem Vergessen überlassen wird, anstatt zu reflektieren: Was ist damals geschehen, was war der Impetus, warum ist die Räterepublik gescheitert?

Und vor allem: Gab es auch emanzipatorische Ansätze, an die man anknüpfen könnte? In Ungarn geht es der Regierung und den mit ihr verbundenen Institutionen stattdessen ausschließlich darum, eine möglichst homogene Volksgemeinschaft zu erschaffen, aus der alles »Nichtungarische« ausgeschlossen werden soll. Für die Erinnerung an die Räterepublik oder an den real existierenden Sozialismus nach 1945 ist da selbstverständlich kein Platz mehr. Selbst für die Kritik daran nicht. Man will komplette Epochen aus den Geschichtsbüchern streichen. Dahinter steckt natürlich auch die Angst davor, die Bevölkerung könne auf »dumme Gedanken« kommen.

Ist diese Annahme denn begründet? Derzeit scheinen Alternativen zum real existierenden Kapitalismus undenkbar. Statt dessen geht es auch für Linke oft nur noch darum, die Reste der Demokratie oder einer liberalen Ordnung zu verteidigen.
Der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus und die Un­möglichkeit, ihn zu reformieren, haben dazu geführt, dass schon die Vorstellung, eine Gesellschaft im emanzipatorischen Sinne zu verändern, als abstrus erscheint. Von ­Leuten, deren Lebensgeschichte mit der Erfahrung der Parteidiktatur verknüpft ist, kann man schlecht erwarten, dass sie noch einmal etwas versuchen, was nach ihrer Erfahrung so fürchterlich gescheitert ist. Dieser autoritäre Sozialismus ist aus sehr verständlichen Gründen gescheitert, und wir müssen uns immer wieder die Frage stellen: Was ist das Neue an der gesellschaftlichen Situation heute, das es sinnvoll erscheinen lässt, Gesellschaften emanzipatorisch zu verändern?

»Der Zusammenbruch des Sozialismus und die Unmöglichkeit, ihn zu reformieren, haben dazu geführt, dass die Vorstellung, eine Gesellschaft emanzipatorisch zu verändern, als abstrus erscheint.«

Walter Benjamin spricht in seinen Thesen »Über den Begriff der Geschichte« von den »Generationen Geschlagener« und schreibt, »auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört«. Dazu passt auch, dass man in Ungarn eine Person wie Bálint Hóman offiziell verehrt, der als Religions- und ­Bildungsminister während des Horthy-Regimes mitverantwortlich für antisemitische Gesetze war.
Die Regierung Orbán duldet nur eine magyarisch-nationalistische Geschichtsschreibung, die nicht das gesamte Spektrum abbilden will, das es in der Historie des Landes gab. Das würde bedeuten, die Räterepublik, in der auch zahlreiche ungarische Intellektuelle aktiv waren, differenziert zu betrachten. Leider gab es bei der Errichtung der Republik mehrere hundert Tote, ihre Niederschlagung im August 1919 verlief aber ungleich blutiger und viele Ungarn mussten ins Ausland fliehen. Heute ist schon fast vergessen, dass die Konterrevolution von einem virulenten Anti­semitismus begleitet wurde. Nicht nur Kommunisten wie Lukács zogen es vor, zu emigrieren. Diese Personen haben später im Exil – in Deutschland oder den USA – gewirkt und ­waren dort auch einflussreich. Lukács ist nur das prominenteste Beispiel eines emigrierten jüdischen Intellektuellen. Man denke an den Soziologen Karl Mannheim, berühmte Künstler wie László Moholy-Nagy und Béla Balázs und ganze Legionen von Psychoanalytikern zum Beispiel. Wenn man die Erinnerung an diese Emigranten einfach entsorgt, ist das so, als würde man die Exilanten, die Deutschland nach 1933 verlassen mussten, aus den deutschen Geschichtsbüchern streichen.

Welche Rolle hat Georg Lukács in der Räterepublik gespielt?
Das ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen. Rückwirkend hat er als marxistischer Philosoph auf spätere Generationen einen enormen Einfluss gehabt, seine Rolle als Volkskomissar ist aber eher von dem Versuch geprägt, allen gesellschaftlichen Schichten Zugang zu den Bildungsinstitutionen zu verschaffen. In den chaotischen 133 Tagen der Räterepu­blik aber lässt sich keine klare Kulturpolitik erkennen – zwischen Avantgarde, bürgerlicher Hochkultur und sozialistischer Agitationsliteratur schwankten die einzelnen Akteure hin und her. Lukács hatte da eine sehr spezielle Auffassung: Er galt als hervorragender Literaturwissenschaftler, wie man in seinen frühen Büchern »Die Seele und die Formen« und »Theorie des Romans« nachlesen kann, und er versuchte revolutio­näre Kulturpolitik idealistisch mit Dostojewskij zu vermitteln, was aus heutiger Sicht recht merkwürdig anmutet, um es vorsichtig auszudrücken. Er lebte quasi in Dostojewskijs Romanwelt. Er war überzeugt davon, dass die Revolution nur im blutigen Kampf und auf brennenden Barrikaden gewonnen werden könne. Als er dann aber versuchte, seine Theorie in die Praxis umzusetzen, kam es zu einigen Spannungen und Kontradik­tionen, die letztlich nicht ausgetragen werden konnten. Die gewaltsamen Taten, die ihm post festum angedichtet wurden, sind wohl maßlos übertrieben. Als die Republik zusammenbrach, suchte Lukács die Erklärung im fehlenden Bewusstsein des Proletariats. Diese Erfahrungen waren schließlich auch dafür verantwortlich, dass die Essays entstanden, die wir als »Geschichte und Klassenbewusstsein« kennen.