Die Inszenierung der Greta Thunberg

Prophetien des Verzichts

Die von Greta Thunberg angefachten Proteste richten sich nicht gegen die kapitalistische Produktionsweise, sondern propagieren deren Fortführung durch bessere Menschen.

Der fragmentierte Weltgeist braucht junge Gesichter, will er sich progressiv darstellen. Es ist die Zeit der Kinderaktivisten, jener Avantgarde des authentischen Protestes: Sei es nun Greta Thunberg, die zum Gesicht des Schülerstreiks gegen den Klimawandel avancierte, oder Genesis Butler, die als kindliches Maskottchen einer Kampagne dient, die den Papst in der Fastenzeit zum Veganismus bekehren will, oder die Schüleraktivisten der Douglas High School in Parkland, Florida, die nach einem Amoklauf an ihrer Schule für schärfe Waffenverbote demonstrieren, oder Ahed Tamimi, die medial vorzeigbare Vertreterin einer Familie von notorischen Judenmördern.

Schülerproteste sind medienaffin, das macht sie für interessierte Erwachsene, die es ahnen – selbst noch in ihrer Abwehr –, so interessant. Ein Schul­streik ist zwar im engeren Sinne kein Streik ist, es wird aber suggeriert, es werde gestreikt, also etwas Ernsthaftes unternommen. Jeder Versuch, zu erklären, es sei irgendwie doch ein Streik, da in der Schule schließlich die Arbeitskraft gebildet oder geformt werde, verkennt, dass Bildung in den wenigsten Ländern kostenlos ist, sondern in der Regel ein Gut darstellt, für das gezahlt werden muss. Gerade hier erweist sich der sogenannte Streik als das, was er ist, ein Boykott. Selbst der Umweg über die Schulpflicht, auch in der bürger­lichen Gesellschaft eine späte Errungenschaft, weist den »Friday for Future« als Protestform der Postmoderne sowie des globalen Nordens aus. Wenig überraschend entpuppt sich der »Global Climate Strike for Future« als »Erste-Welt-Protest«.

Der Kritiker bleibt in sehr spezifischer Weise etwas Drittes, oder in den Worten desselben Denkers an anderer Stelle: »Nicht erwachsen werden, ohne infantil zu bleiben.« Für heutige Generationen hingegen, die jenen Kontrast zwischen infantil und erwachsen kaum mehr kennen, ist Greta, als eine Jugendliche, die aussieht wie ein Kind, aber redet wie eine Erwachsene, in der Tat das perfekte Symbol.

In der Taz hat man das mediale Potential Gretas erkannt und beeilt sich, die junge Aktivistin sehr ernst zu nehmen. »Viele bezeichnen Greta Thunberg als Kind, um sie und ihr Anliegen zu verniedlichen. Aber sie ist eine junge Frau.« Dabei scheint es nicht zu stören, dass sie selbst immer wieder betont, ein Kind zu sein. In ihrem Herkunftsland zur »Frau des Jahres« gewählt, verkündete Thunberg, die in der vergangenen Woche für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde: »Und dass ich so jung bin, ist auch lustig, ich bin ja weiterhin ein Kind.« Es kann kaum geleugnet werden, dass gerade das jugendliche Alter und die kindliche Erscheinung Thunbergs maßgeblich zu ihrer Popularität beitragen.

Das bedeutet aber nicht, dass die jungen Aktivisten den in den Medien geführten Debatten nicht gewachsen wären, die zumeist derart unterkomplex sind, dass selbst Kinder und Jugendliche sie führen können, ohne dass damit ein Niveausverlust einhergehen würde. Thunbergs Popularität zeigt vielmehr, dass der Rollentausch längst stattgefunden hat, wenn Kinder ihren Eltern vorgeben, was sie essen, wohin sie reisen und was sie kaufen dürfen. Das, was ehemals ein Privileg der Elterngenera­tion war, nämlich den Nachwuchs zu Verzicht, Mäßigung und verantwortungsvollem Handeln zu bewegen, ist nunmehr ein Druckmittel in der Hand von Schülern geworden.

Keinesfalls soll hier geleugnet werden, dass zahlreiche Kritiker tatsächlich völlig danebengreifen. Den Parkland-Schülern wurde unterstellt, sie seien Schauspieler. Auch Henryk M. Broder, der Gretas Einsatz als »Kindesmissbrauch« zu tadeln versuchte, argumentiert nicht nur einigermaßen gemein, sondern auch grundlegend falsch. Völlig unterschätzt er die symptomatische »Eigeninitiative« einer in der Aufmerksamkeitsöko­nomie aufgewachsenen Generation. Auch und gerade die Pathologisierung von Greta als psychisch gestört ist ebenso denunziatorisch wie falsch, schließlich ist die Teenagerin vor allem eine typische Vertreterin einer Generation, die sich nicht zufällig einen Sheldon Cooper zum Idol erwählt. Es ist eine Generation, die sich »engagiert«, indem sie beispielsweise im Elternhaus herumläuft und das Licht ausschaltet, um das Klima zu retten, anstatt anzufangen zu rauchen, Alkohol zu konsumieren, eine Line zu ziehen oder die beleuchtete Nacht etwas länger zu erkunden als erlaubt.

Greta Thunberg und Genesis Butler sind Vertreterinnen einer Genera­tion, die, anstatt gegen die Regeln der Erwachsenen zu verstoßen, diesen noch mehr Regeln diktiert als umgekehrt. Wenn überhaupt, wäre also ein Missbrauch durch Kinder zu kritisieren, welche antreten, die verwaltete Welt noch mehr und tiefergehend zu verwalten, oder in den ­leider völlig glaubwürdigen Worten Thunbergs im Interview mit dem Spiegel: »Manche Menschen behaupten, meine Eltern hätten mich gehirngewaschen. Aber es war umgekehrt: Ich habe meinen Eltern das Gehirn gewaschen. Ich habe sie überzeugt, nicht mehr zu fliegen und kein Fleisch mehr zu essen (schmunzelt).« So erinnern viele der neuen politischen Jugendstars an jene Kinder linker Eltern, die im pubertären Protest ankündigen, Polizist statt Punker werden zu wollen, letztlich aber doch eine Karriere als Sozialpädagoge beginnen, worin beiden Seiten wunderbar aufgehoben sind. Diese Teenager sind kleine Erwachsene. Dies zieht sich bis in den Duktus, wenn die damals zehnjährige Genesis Butler auf die Frage, warum sie vegane Aktivistin geworden sei, mit der den Memoiren einer 80jährigen entnommen klingenden Formulierung antwortet: »I think, mostly, I just love animals so much, I’ve loved them my whole life.« Angesichts solcher Kinder wird selbst die restlos entsexualisierte und von Verlagsseite um Unsittlichkeiten bereinigte Pippi Langstrumpf plötzlich zu einem Inbegriff widerständiger Kindheit.

Jeder Impuls von Kritik ist infantil, sei es der kindliche Gerechtigkeitssinn, welcher das gerade verinnerlichte Äquivalenzprinzip radikal zur Anwendung bringt und somit zum Telos des »gerechten Tausches« wird, oder selbst noch der Trotz gegen das Realitätsprinzip als solches. Wer diesen Impuls aber nie überschreitet, wird ebenso wenig Kritik üben wie jemand, der jene Kindheit komplett hinter sich lässt. Adorno betonte, dass der Kritiker vor die Wahl gestellt sei, »auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben«, und hat in der vermeintlichen Wahl die Antwort schon mitgeliefert: Der Kritiker bleibt in sehr spezifischer Weise etwas Drittes, oder in den Worten desselben Denkers an anderer Stelle: »Nicht erwachsen werden, ohne infantil zu bleiben.« Für heutige Generationen hingegen, die jenen Kontrast zwischen infantil und erwachsen kaum mehr kennen, ist Greta, als eine Jugendliche, die aussieht wie ein Kind, aber redet wie eine Erwachsene, in der Tat das perfekte Symbol.

Dennoch hat das Gerede von der Instrumentalisierung ein Moment von Wahrheit, das auch Linke kaum leugnen würden, ginge es beispielsweise um die Kinder, die beim »Marsch für das Leben« neben ihren Eltern mitlaufen müssen. Immer scheint nur die Gegenseite zu »instrumentalisieren«, dabei lautet die grundsätzliche Frage: Wer bekommt die große Bühne? Denn auch weiterhin liegen Produktionsmittel und Medienkapitalismus in den Händen der Erwachsenen. Dem zum Trotz umgibt die aktiven Schüler eine Aura der Unmittelbarkeit, geprägt von kindlich-jugendlicher Reinheit, welche schon in der verräterischen Kinderfrage im Märchen »Des Kaisers neue Kleider« zum Pseudokorrektiv erhoben wurde.

Folgerichtig machen sich Politiker wie Emmanuel Macron oder Frank-Walter Steinmeier die als »Engagement« gepriesenen Streiks zu eigen und stellen sich demonstrativ auf die Seite der Schüler. Dass die angeblich so rebellischen Schüler die ausgestreckten Politikerhände gerne schütteln, auch das gehört zu den Besonderheiten dieser Protestbewegung. »Werden wir unseren Kindern in die Augen blicken können, wenn wir nicht auch unsere Klimaschuld begleichen?« fragte Macron in seiner jüngsten Europa-Rede, ganz im Stil der Überbietungsrhetorik der jungen Klimaaktivsten. Schließlich möchte auch der wegen seines hedonistischen Lebensstils in die Kritik geratene Staatschef keinesfalls zu jenen Politikern gehören, die von Thunberg als die »größten Verbrecher aller Zeiten« geschmäht werden.

Man muss sich schon sehr anstrengen, um die darin implizit enthaltene Botschaft nicht wahrzunehmen. Deutlicher wurde der Politiker Michael Cramer (Grüne), als er verkündete: »Es gibt Leute, die leugnen den Klimawandel. Es gibt Leute, die leugnen den Holocaust. Es gibt Leute, die leugnen, dass Feinstaub und Feinstaubpartikel und CO2 und Stickoxide gesundheitsschädlich sind, das gehört dazu.« Noch etwas expliziter wurde der Tagesspiegel, um Brasiliens neuen Präsidenten zu charakterisieren, der angekündigt hatte, den Regenwald weiter abzuholzen. Aus dem rechtzeitig, also vor Jahrhunderten entwaldeten Deutschland kam der Hinweis, dieser Mann sei durch seinen Angriff auf die »grüne Lunge des Planeten« somit »als Klimakiller ein möglicher Menschheitskiller«. Daraus könne nur folgen: »Nach neuerem, globalem Völkerrechtsverständnis endet die nationale Souveränität eines Landes im Fall schwerster, genozidaler Menschenrechtsverletzungen. Das sind die Lehren nach Auschwitz. Oder von Pol Pot. Eine drohende Vernichtung des brasilianischen Regenwalds müsste als Angriff auf die Zukunft des Planeten wohl die Weltgemeinschaft auf den Plan rufen.«

Wenn so viel auf dem Spiel steht, erübrigen sich kleinliche Fragen wie die nach dem PR-Modell der Weltenretter. Die Stockholmer Tageszeitung Svenska Dagbladet enthüllte, dass sich der von Thunberg inspirierte Klimaaktivismus längst zu einem einträglichen Geschäft entwickelt hat. Ethik, Moral und Glaubwürdigkeit gelten als wichtige Faktoren für die Vermarktung »grüner« Produkte und Finanzdienstleistungen. Das machte sich auch der schwedische Geschäftsmann Ingmar Rentzhog zunutze, der von sich selbst sagt, er habe Greta, die 2018 vor dem Schwedischen Reichstag ihre freitägliche Demonstration abhielt, entdeckt. Er fo­tografierte und filmte die Teenagerin und brachte das professionell aufbereitete Material über die sozialen Medien und firmeninterne Kanäle in Umlauf.

Später bewarb er mit ihrem Namen seine 2017 gegründete Aktiengesellschaft »We don’t have time«, deren Geschäftsziel es nach ­eigenen Angaben ist, virale Umwelt­inhalte zu genieren, die aber auch mit dem Handel von CO2-Zertifikaten in Verbindung gebracht wird. Thunberg, deren Konterfei regelmäßig die Werbeprospekte der Aktiengesellschaft zierte, wurde zudem in den Vorstand seiner Stiftung berufen. Nach Bekanntwerden der Verbindung durch die Recherchen des Svenska Dagbladet beendeten die Schülerin und der Geschäftsmann im Januar 2019 ihre für beide Seiten überaus erfolgreiche Zusammenarbeit: Greta Thunberg hatte es mit professioneller Unterstützung längst zu internationaler Bekanntheit gebracht; das junge Unternehmen »We don’t have time« (eine Aussage, die wohl jeder Börsianer sofort unterschreiben wird) hatte es mit Gretas Unterstützung geschafft, Aktien im Wert von zehn Millionen Kronen (knapp eine Million Euro) auszugeben.

Geschadet hat die zeitweilige Verbindung in die Finanzwelt dem Image der jungen Aktivistin im Übrigen nicht. Thunberg macht in einer Zeit, in der die Schule zu schlecht ist, um noch etwas vom alten Versprechen zu bewahren, und noch zu gut, um wirklich auf die Leere und Gehaltlosigkeit des heutigen Berufslebens vorzubereiten, schlichtweg alles richtig: Sie wird im Zuge ihres Protests mehr und früher wichtige Kontakte (zum Beispiel zu Bono und Christine Lagarde) knüpfen, mehr Softskills erwerben als ihre Schulfreunde bei deren späteren Praktika in einer Unterabteilung der Umweltagentur der EU oder einer regionalen Initiative; sie lernt, ein Thema, ein Gesicht und einen Namen zu einer Marke zu verschmelzen. Sie lernt alles, was man hierzulande braucht für eine Karriere im vereins- und stiftungsangereicherten Feld zwischen Linksradikalismus und Internationalem Währungsfonds. »Wir schwänzen nicht. Wir sind aktiv«, heißt es immer wieder von Seiten der hyperaktiven Protestschüler. Keine Frage: Heutige Bildungsinhalte und -systeme führen den Einwand, die Schüler mögen lieber zur Schule gehen und etwas Gescheites lernen, um die Welt zu verändern, in der Tat selbst höchst praktisch und tagtäglich ad absurdum.

Leistung aber würde am ehesten noch verweigern, wer sich angesichts der Wahl zwischen Schulbank und Klimaprotest für das Kino, die Kneipe oder den neuen Roman Houellebecqs, also den Konsum, entscheidet. In jener Sphäre nämlich bildet sich, was man im Idealfall Geschmack nennen kann. Greta, welche am laufenden Band von »unserer Zivilisation« palavert, im selben Zuge aber Essen nur als »Treibstoff« verstehen kann, beweist damit nur das Fehlen jeglicher Urteilskraft. Gestillter Hunger und Geschmack verhalten sich zueinander wie Sicherheit und Freiheit; wobei selbst Kant schon anmerkte, dass der Geschmack erst nach der Sättigung des Hungers komme.

Inhaltlich propagiert die von Thunberg angeführte Bewegung vor allem eine Moral des Verzichts, die einen asketischen beziehungsweise »nachhaltigen« Lebensstil zum Ideal erhebt, der weniger, dafür bewusste Flugreisen und viel veganes Essen umfasst. Dazu passt die durchaus populistische Aussage Thunbergs: »Einige Leute sagen, dass ich studieren sollte, um Klimawissenschaftlerin zu werden, damit ich die Klimakrise ›lösen kann‹. Aber die Klimakrise ist bereits gelöst. Wir haben bereits alle Fakten und Lösungen. Alles, was wir tun müssen, ist, aufzuwachen und uns zu verändern.« In keinem der Pro­teste geht es gegen die kapitalis­tische Produktionsweise, sondern, wenn überhaupt, um Schönheitskorrekturen respektive die zeitgemäße Fortführung dieser durch bessere, »veränderte« Menschen.