Colonia Dignidad im Animationsfilm »Das Wolfshaus«

Das konzentrierte Böse

In Form einer albtraumhaften Parabel erzählt der chilenische Animationsfilm »La Casa Lobo« von den Ängsten eines missbrauchten Mädchens. Hintergrund ist die Geschichte der Colonia Dignidad.

Bevor die eigentliche Handlung des Films beginnt, wird ein kurzer Werbefilm für eine namenlose Kolonie deutscher Aussiedler in der waldigen Gebirgslandschaft Südchiles eingespielt. Mit starkem deutschem Akzent preist ein Sprecher auf Spanisch die Vorzüge des einfachen Lebens abseits »der Versuchungen der modernen Welt«. Die Gemeinschaft würde »so leben, wie es für Menschen natürlich« sei. Zu sehen ist dazu eine lächelnde Frau beim Nähen, eine Krankenschwester, Männer bei der Feld­arbeit. Die Kolonie sei für ihren guten Honig bekannt und niemand solle den üblen Gerüchten glauben, die über die Gemeinschaft im Umlauf seien. Lächelnde Jungen in Leder­hosen, singende Mädchen in Tracht. Dann erfolgt ein Schnitt. Man sieht einen 16-mm-Schneidetisch für analogen Film, der Werbefilm ist vorbei und die in Stop-Motion-Animation gedrehte Spielhandlung beginnt.

»Wir hatten Interesse daran, die Konzentration des Bösen an isolierten Orten zu erörtern – und das, in Verbindung mit der chilenischen Vorliebe für die deutsche Kultur, hat uns zum Thema Colonia Digndidad geführt.« Joaquín Cociña

Obwohl der Name »Colonia Dignidad« weder in dem fiktiven Werbestreifen noch in dem Animationsfilm selbst erwähnt wird, ist klar, dass das berüchtigte Siedlungsarreal gemeint ist. Gegründet wurde die Kolonie von dem deutschen evangelikalen Prediger Paul Schäfer, einem ehemaligem Nazi und Wehrmachtsoffizier, der 1961 mit Mitgliedern der von ihm geführten Sekte nach Südchile auswanderte, nachdem ihm in der Bundesrepublik ein Prozess wegen Kindesmissbrauchs drohte. Auf einem unzugänglichen, 300 Quadratkilometer großen Gelände entstand die Colonia Dignidad. Dort herrschte Schäfer über mehrere Hundert Menschen.

Geschlechtertrennung, Körperstrafen und Fronarbeit waren üblich, sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche war Teil des Systems. Die Sekte hatte Verbindungen zu Altnazis im BND in der Bundesrepublik wie auch zur faschistischen chilenischen Bewegung Patria y Libertad. Der Putsch von Augusto Pinochet im Jahr 1973 wurde von Schäfer unterstützt, der Geheimdienst der Militärjunta DINA unterhielt ein geheimes Gefängnis und Folterzentrum für Oppositionelle auf dem Gelände der Colonia. Auch nach dem Ende der Diktatur 1990 blieben Schäfer und weitere Personen bis 2005 weitgehend unbehelligt. Zwar schafften Sektenmitglieder immer wieder die Flucht, überwanden Stacheldraht, Stolperdrähte und Selbstschussanlagen, ihren Aussagen aber wurde nicht geglaubt. Bereits 1967 floh das langjährige Sektenmitglied Wolfgang Müller und versuchte, den Kindesmissbrauch in Chile öffentlich zu machen. Auf Betreiben Schäfers wurde Müller wegen Verleumdung verurteilt und zum Schweigen gebracht. Manche der Geflüchteten begingen Selbstmord, anderen gelang es nach dem Ende der Diktatur und jahrzehntelangen Bemühungen, Schäfer wegen Kindesmissbrauchs anzuklagen. Deutschland weigert sich bis heute, den nach Krefeld geflüchteten Leiter des Krankenhauses der Colonia, Hartmut Hopp, an Chile auszuliefern, obwohl er dort wegen Kindesmissbrauch zu fünf Jahren Haft ­verurteilt wurde.

In Form einer alptraumhaften Parabel erzählen die chilenischen Me­dienkünstler Cristóbal León und Joaquín Cociña in ihrem Animationsfilm »La Casa Lobo« (Das Wolfshaus) von einem Mädchen, das sich aus der fiktiven Kolonie in ein verlassenes Haus geflüchtet hat, weil sie sich vor ihrer Bestrafung fürchtet. Maria habe mit den Schweinen gespielt, anstatt sie ordentlich zu hüten. Durch ihre Schuld seien drei Schweine weggelaufen und zur Strafe dürfe sie 100 Tage mit niemandem sprechen. Sie solle über ihr Fehlverhalten nachdenken.

Auf kindlich wirkenden Zeichnungen taucht zwischen stilisierten Bäumen der Umriss eines Hauses auf. Dazu erklingt aus dem Off die Stimme von Maria: Sie wolle nicht mehr bestraft werden, sie wolle fliehen. Das Haus wird größer, bekommt eine Tür, eine gezeichnete Hand öffnet sie. Die Kamera tritt in ein Zimmer ein. Die Wände schwanken, verschieben sich und geben einen großen Flur frei. Der Raum wird real und dreidimensional, an einer Gar­derobe hängen zwei Jacken, aber die Bilder an der Wand sind nur aufgemalt, mal hängen leere Rahmen an der Wand. Maria ist mal als Puppe aus Pappmaché, Kreppklebeband und Flüssigkleber dargestellt, mal als eine animierte Zeichnung. Sie flüstert auf Spanisch und fragt, ob hier jemand sei. Sie bittet um Hilfe. Niemand antwortet. Sie ist den ganzen Film über alleine in dem Haus – bis auf zwei von den drei entlaufenen Schweinchen. Die Schweine verwandelt sie mit Hilfe eines magischen Balls in zwei Kinder. Zuerst bekommen die Ferkel Hände statt Klauen, um mit ihr Ball zu spielen. Sie lernen aufrecht zu gehen, die Köpfe der Tiere verwandeln sich in menschliche Köpfe.

Als Maria mit den beiden Schweinen vor einem Fernsehgerät sitzt, ertönt die Stimme des Wolfs aus dem Off: »Woraus ist dein Haus gebaut? Kann auch niemand hinein?« Auf dem verrauschten Fernsehbild erscheint ein Wolf; seine einschmeichelnde, latent bedrohliche Stimme ist die des Kommentators im Propagandafilm aus der Eingangssequenz. Die Pappmachéfiguren von Maria und den beiden Schweinen lösen sich in dieser bedrohlichen Situation auf, sie zerfasern und verschwinden in den Polstern des Sofas, auf dem sie eben noch saßen. Als die Stimme des Wolfs ein anderes Mal zu hören ist, antwortet Maria, sie wolle nicht zurück in die Kolonie.

Als durch eine Unachtsamkeit Marias im Haus ein Feuer ausbricht, wird aus der Pappmachéfigur ein Wandbild. Schwarze Farbe läuft über die gemalte Maria und löscht sie aus. In einer Rezension zu »La Casa Lobo« schreibt die US-Amerikanerin Eve Tushnet, der Wunsch zu verschwinden und den eigenen Körper zu verlassen sei typisch für trauma­tisierte, missbrauchte Kinder. Die Traumatisierung durch sexualisierte Gewalt und das Kontroll- und Strafsystem in der Kolonie bestimmten die gesamte Persönlichkeit Marias. In den beklemmenden, klaustrophobischen Bildern wird dies unmittelbar spürbar. Es wird deutlich, dass sie sich von der totalitären Sekte nicht einfach durch die Flucht befreien kann. Was sie auch versucht, sie kommt nicht los von ihren Erfahrungen.

Ständig unternimmt Maria neue Versuche, sich in dem Haus zwischen wandernden Wänden, wuchernden Pflanzen und beweglichen Möbeln, Bildern, Fenstern und Türen zu behaupten. Ein Fenster an der Wand ist ein Hakenkreuz. Es ist nicht der einzige, aber der deutlichste Verweis auf den nationalsozialistischen Hintergrund der Colonia Dignidad.

Maria näht ein Kleid für das größere Schwein und nennt es Ana, das kleinere bekommt typische Jungsklamotten, sie nennt es Pedro. Sie bringt ihnen das Sprechen bei. Nach dem Brand im Haus pflegt sie Ana und Pedro gesund. Dabei benutzt sie den Honig aus der Kolonie, den arischen Honig, den dort nur Ausgewählte bekamen, wie Maria erzählt. Er habe Wunderkräfte. Tatsächlich verwandeln sich Ana und Pedro, nachdem Maria sie mit Honig gefüttert hat, von schwarzhaarigen in blonde Kinder. Cristóbal León erklärte dazu in einem Interview, dass er und sein Co-Regisseur bei den Recherchen zum Film erfuhren, dass die deutschen Sektenmitglieder ihre chilenischen Nachbarn als »Schweine« ­bezeichneten. Die Verwandlung der beiden Schweinchen in blonde, »arische« Kinder sei als ironischer Seitenhieb gegen die rassistische Ideologie der Colonia Dignidad gedacht.

So phantasmagorisch die Handlung und die Bilder auch wirken – der Film ist eine beklemmende Fabel, in der die Traumatisierung von Kindern gezeigt wird, die Opfer ­sexualisierter Gewalt wurden. In Chile lief der Film im vergangenen Jahr in vielen Kinos und wurde viel diskutiert. Im Centro Gabriela Mistral in der chilenischen Hauptstadt San­tiago de Chile wurde eine Ausstellung zum Film gezeigt sowie Podiumsdiskussionen veranstaltet.

»La Casa Lobo« wurde unter Einbeziehung des Publikums im Rahmen von Ausstellungen in zwölf Galerien in verschiedenen Städten ­gedreht, darunter Santiago de Chile, Mexiko-Stadt, Buenos Aires, Amsterdam und Hamburg. Laut Cristóbal León arbeiteten die Regisseure fünf Jahre an »La Casa Lobo«. Die Idee zu dem Film hatte León während eines Aufenthalts in Deutschland. »Schon vorher«, erzählt Joaquín Cociña, »hatten wir Themen zur Diktatur behandelt. Wir hatten Interesse daran, die Konzentration des Bösen an isolierten Orten zu erörtern – und das, in Verbindung mit der chilenischen Vorliebe für die deutsche Kultur, hat uns zum Thema Colonia Dignidad geführt.«

La Casa Lobo (Chile 2018). Buch, Regie und Kamera: Cristóbal León, Joaquín Cociña. Filmstart: 4. April