Das neue Album der Band American Football

Jedem Ende wohnt ein Zauber inne

20 Jahre nach ihrem Erstling veröffentlichen American Football ein weiteres Album. Eine Hommage an eine stilprägende Band und eine Würdigung des verschwundenen Genres des »midwest emo«.

In der Kleinstadt Urbana im US-amerikanischen Bundesstaat Illinois steht ein verzaubertes Haus. Auf den ersten Blick sieht es so aus wie Milli­onen anderer amerikanischer Häuser: Die typische weiße Holzverkleidung plus Schiebefenster und natürlich Veranda. Dieses unscheinbare Haus lockte in den vergangenen 20 Jahren etliche Pilger an. Sie alle kennen es von einem Plattencover. 1999 prangte es auf dem Debütalbum einer Band namens American Football. Auf dem Asphalt vor dem Haus findet man kleine Markierungen. Besucher haben versucht, die Stelle zu finden, von welcher aus das Coverfoto geschossen wurde. Diesen perfekten Winkel fand vor 20 Jahren der Fotograf Chris Strong: Auf seinem Bild sieht man das Haus bei Nacht, durch ein Fenster im Obergeschoss dringt grelles Licht.

Auf den ersten Blick sind weder Band noch Plattencover etwas wirklich Besonderes. Zahlreiche Bands, insbesondere aus dem drögen, dünn besiedelten US-amerikanischen Mittleren Westen, spielten einen ähnlichen Sound, der kurzerhand »mid­west emo« getauft wurde. 1999 war die große Emo-Phase fast schon wieder vorbei. American Football setzten dem Genre mit ihrem selbstbetitelten Album ein Denkmal und lösten sich kurz darauf auf. Das Album bekam Kultstatus und das Haus wurde zu einer Attraktion für zahlreiche Fans.

»Midwest emo« bedeutet radikale Weinerlichkeit und Resignation. Es ist eine Fortschreibung des Punk durch die Negation dessen, was Punk sein wollte.

Erst 2014 fand die Band in Originalbesetzung wieder zusammen. Das passte zu den beiden Mitgründern, den Cousins Mike und Nate Kinsella. Schon die Band der beiden vor American Football, Cap ’n Jazz, war ebenso kultig wie kurzlebig. Im Laufe der Jahre dämmerte es Fans und Kritikern: Das Album mit dem Haus auf dem Cover war kein gewöhnliches. Es brachte ein ganz spezifisches Gefühl auf den Punkt. 2014 tauchten American Football aus der Versenkung auf und nahmen 2016 ein zweites Album auf. Gleichzeitig spendierten sie ihren Fans ein Video zu ihrem über die Jahre zur Hymne avancierten Song »Never Meant«. Regie führte Chris Strong, der Fotograf des Plattencovers von 1999. Zentral im Video ist eben jenes Haus in Urbana, ein Schauplatz einer scheiternden Jugendliebe, dass der Zuschauer nun auch von innen zu sehen bekam.

20 Jahre nach ihrem Debüt veröffentlichen American Football nun ihr drittes Album. Das Haus in Urbana taucht nun zum ersten Mal nicht auf einem Cover der Band auf. Am Sound geändert haben sie dafür so gut wie nichts. Immer noch möchte man das, was man hier hört, Emo nennen – hätte der Begriff um die nuller Jahre nicht eine merkwürdige Neubesetzung erfahren. Das, was später mit Bands wie My Chemical Romance, reichlich Kajal und fragwürdigen Frisuren zu einer verbreiteten Jugendkultur wurde, wirkt gegenüber der zurückhaltenden, verkopften Musik von American Football eher wie eine Karikatur. Vor diesem Hintergrund muss man es fast schon als ironischen Kommentar auffassen, dass ausgerechnet eine der Hauptvertretern der ultrapoppigen und zeitweise kommerziell hocherfolgreichen Emo-Variante, Paramore-Sängerin Hayley Williams, als Gastmusikern auf dem Album auftaucht.

Dass zwei sehr unterschiedliche musikalische Spielarten denselben Namen tragen, ist kaum mehr als ein Missverständnis, das sich schon darin äußert, dass eingefleischte Fans zuweilen dazu übergingen, das Ursprungsgenre »real emo« zu nennen. Insbesondere der midwest emo war eine radikal subjektzentrierte Gegenbewegung zu vielen Formen von Punk und Hardcore, die in den Neunzigern Konjunktur hatten. Statt den komplexen und widersprüchlichen Emotionen der in der Spätmoderne auf sich selbst zurückgeworfenen Individuen durch aggressives Auftreten, Schreien und Verzerrungen unmittelbar Ausdruck zu verleihen, dominiert in dieser Musik das Leise, das Sanfte, das Unschuldige. Unverkennbar im Sound von American Football: Nostalgie, die Sehnsucht nach magischen Jugendtagen voll erster Erfahrungen, deren Zukunft noch offen ist. Im Video zu »Never Meant« wird das ersichtlich: Die zwei Teenager, die sich hier ganz kitschig auf einer typisch amerikanischen Hausparty zum ersten Mal küssen, verlieren sich später. Mike Kinsella antizipiert das Ende aller Dinge, die zu schön anfangen, um bleiben zu können – und deswegen schon in ihrem idealisierten Entstehen die Lüge enthalten: »There were some things that were said that weren’t meant.«

Der Maßstab für ein gelungenes Leben ist nicht mehr länger (nur) der materielle Erfolg, sondern vor allem auch die gelungene Beziehung, die sich dem romantischen Idealbild nach in Teenagerzeiten anbahnt und ein Leben lang bleibt. Doch statt gegen die Verlogenheit des amerikanischen Traums rebellisch anzusingen, ziehen sich die Subjekte dieser Emo-Phase in sich selbst zurück. Midwest emo erlangt seine Besonderheit dadurch, dass das Ende einer jeden Beziehung schon immer vorausgeahnt wird und damit von vornherein lähmt.

Midwest emo bedeutet radikale Weinerlichkeit und Resignation. Es ist eine Fortschreibung des Punk durch die Negation dessen, was Punk sein wollte. Liegenbleiben, Unterlassen, endloses Reflektieren und Problematisieren statt Aufbruch und Zerschlagung. Viele der Emo-Bands aus den Neunzigern mit diesem sensiblen Sound tragen und trugen Shirts von brachialen Hardcore-Bands. Das ist kein Widerspruch. Die Fragen, die sich diese Bands stellten, waren ähnliche. Die Antworten aber waren andere. Und sie konnten von vielen verstanden werden. Wenngleich ein Haus wie das auf dem Plattencover von American Football in Europa schwer zu finden sein wird: Ein Teenager, der versucht, die große Liebe mit kleinen Steinwürfen gegen ein spärlich beleuchtetes Fenster auf sich aufmerksam zu machen, ist wohl eine der klassischen Figuren der westlicher Kultur. Midwest emo ist hyper­amerikanisch und trotzdem durch seine unmittelbare Verständlichkeit ein Beweis für die immense Durchsetzungskraft westlicher Popkultur.

Die Erfahrungen im Teenager-Alter finden auf dem neuen Album ihre erwachsene Fortsetzung. »Silhouettes« ist das Bekenntnis von jemandem, der seinen Partner betrügt, der die Normalität der alten Beziehung nur noch über »muscle memory«, über verinnerlichte, mechanische Bewegungen, herstellt. American Football verstehen es, diese Erfahrung weder zu romantisieren, noch verächtlich zu machen. Mit einem sanften Glockenspiel wird der Hörer in eine dem Shoegaze nicht unverwandten Trägheit in eine scheinbar harmlose Umgebung hereingezogen. Der Höhepunkt folgt nach zwei Minuten kurz vor der tiefsten Bassnote, wo Sänger Kinsella das Fremdgehen mit einer kaum zu ertragenden Nüchternheit als Jahrhundertverbrechen, als »crime of the century« beschreibt. Wer mit dieser Musik jemals etwas anfangen konnte, wird spätestens an dieser Stelle erbarmungslos zum Nachdenken gezwungen. Das war schon immer eine Stärke von American Football: Die Unschuld, mit der die Musik daherkommt, verschleiert die Wucht, mit der der Text den ­Hörer angreift. Umso unvorbereiteter wird man von ihr getroffen.

Emo für tot zu erklären, wäre nicht korrekt. Unverkennbar erlebt die Stilform Emo gerade ein Revival im HipHop. Das Scheitern an der Vorstellung und die Vorstellung vom Scheitern sind mit der Postmoderne so verflochten wie eh und je, nur die Form hat sich gewandelt. Midwest emo im Stile von American Football ist weitestgehend Popgeschichte. Diese spezifische Spielart, in der die Band das Genre jetzt noch einmal herbeizitiert, wirkt kaum 20 Jahre nach der Hochzeit schon fast wie ein Relikt, dessen Bedeutung nur noch von einer überschaubaren Anzahl Musiknerds überhaupt adäquat verstanden werden kann. Das macht American Footballs drittes Album zu einer kleinen Sensation für wenige und wohl zu einer schwer nachvollziehbaren Werk für viele andere.

Das Haus in Urbana, diese Emo-Pilgerstätte, wurde vor kurzem renoviert und war auf der amerikanischen Kleinanzeigen-Börse Craigslist zur Vermietung gelistet. Schon jetzt dürften die noch immer dorthin Pilgernden keine Teenager, sondern ­erwachsene Menschen sein. Mit dem Verschwinden von midwest emo wird auch bald der Zauber verschwinden, den dieses Haus umgeben hat. Bis es soweit ist, reanimieren American Football ein Genre und schaffen es, das Totgeglaubte nicht wie einen Zombie aussehen zu lassen. Das wird in der Form nicht ewig aufs Neue gelingen. Den Inhalt aber, das Gefühl, das midwest emo einst so gut verkapseln konnte, das vergeht so schnell nicht. Herzen brechen ähnlich, gescheitert wird immer.

American Football: American Football (­Polyvinyl Records)