Armenien ein Jahr nach der »Samtenen Revolution«

Nach der Revolte

Vor einem Jahr stürzten Massenproteste Armeniens Ministerpräsidenten Sersch Sargsjan. Hat sich das Land seither gewandelt?

Beim größten politischen Umsturz in der Geschichte ihres Heimatlandes war Laura Pogosjan zu Beginn gar nicht dabei. Die Bilder der Revolte verfolgte sie über die sozialen Netzwerke aus ­Litauen, wo sie arbeitete: Polizeischlagstöcke, die auf die Köpfe friedlicher Demonstranten niederprasseln; Lastwagen, die Zufahrtsstraßen zu allen größeren Ortschaften des Landes blockieren; Autokorsos mit armenischen Nationalflaggen; Hunderttausende, die die Straßen säumen. »Ab einem bestimmten Zeitpunkt konnte man nicht einfach mehr an der Seite stehen«, sagt die 30jährige in einem Café in Armeniens Hauptstadt Eriwan, nahe dem Opernplatz. »Wir hatten das Gefühl, etwas verändern zu können und endlich unsere Rechte zu erlangen.«

»Früher konnte man seinen Führerschein für einen mit Geld gefüllten Umschlag einfach so bekommen. Heute trauen sich die Leute das nicht mehr.«

Im April 2018 stürzte Armeniens damaliger Ministerpräsident Sersch Sargsjan. Beobachter sprachen, in Anlehnung an die Tschechslowakei, von einer »Samtenen Revolution«. Sargsjan hatte zuvor angekündigt, bei den nächsten Wahlen ein weiteres Mal als Ministerpräsident zu kandidieren. ­Dabei hatte er das Land als Präsident schon zehn Jahre lang regiert. Erst ein umstrittenes Verfassungsreferendum, das die Regierungsbefugnisse vom Präsidenten auf den Ministerpräsidenten übertrug und Sargsjans Republikanische Partei stärkte, ermöglichte ihm diesen Schachzug. Die Macht blieb in den Händen derselben Leute. Das empörte viele in Armenien.

Einer von ihnen war Nikol Paschinjan. Gerichte verurteilten den ehemaligen Journalisten und Kritiker Sargsjans zu mehreren Jahren Gefängnis. Doch als die Anti-Sargsjan-Bewegung begann, setzte er sich an die Spitze des Protests; das Bild des unrasierten Mützenträgers, der mit lädierter Hand ein Megaphon umgreift, wurde zu einem Meme. Bis zu 580 000 Armenier (bei einer Bevölkerung von drei Millionen) gingen mit ihm auf die Straße. Laura Pogosjan stand dem Anführer der Proteste zu Beginn skeptisch gegenüber. »Ich bin nicht für Nikol Paschinjan auf die Straße gegangen, sondern für meine Rechte.« Sersch Sargsjan gab dem Druck der Proteste nach und trat zurück. Mit den Stimmen der Republikaner wurde Paschinjan im Mai von der Nationalversammlung zum neuen Ministerpräsidenten gewählt. Bei den Neuwahlen im Dezember erlangte sein Bündnis »Mein Schritt« 70 Prozent der Stimmen. »Wir konnten es am Anfang kaum fassen. Wir verspürten eine riesige Euphorie«, erinnert sich Pogosjan.

Das lange Nachleben der Sowjetmentalität
Sargsjan verkörperte für viele einen typischen Vertreter der politischen Führungsschicht in Armenien nach der Unabhängigkeit 1991. Zu Sowjetzeiten noch Funktionär in der Kommunistischen Partei, genoss er Anerkennung als Veteran im Krieg gegen Aserbaidschan um die umkämpfte Region Bergkarabach. Später wurde er Anführer der Republikanischen Partei, die in der Kaukasusrepublik fast 20 Jahre dominierte. 2008 wurde er zum Präsidenten gewählt, in seine Amtszeit fielen unter anderem das umstrittene Verfassungsreferendum und der Beitritt Armeniens zur Eurasischen Wirtschaftsunion, einer von Russland geführten Freihandelszone. Ihm wurde Vetternwirtschaft vorgeworfen, der Kauf von Wählerstimmen und ein mangelndes Vorgehen gegen Korruption und Arbeitslosigkeit, die immer noch bei fast 20 Prozent liegt.

»Ich habe dem Staat nie vertraut«, sagt Laura Pogosjan. Deshalb habe sie ihre Karriere vor allem in internationalen Organisationen gesucht, heute arbeitet sie für eine unter anderem von der EU finanzierte NGO im Kultursektor. Die Jahre vor der »Samtenen Revo­lution« empfand sie als bleiern. »Die älteren Menschen haben noch diese Sowjetmentalität. Sehr staatsgläubig, und abhängig von ihren Betrieben. Während der Proteste wurden wir beschimpft, dass wir sie nicht zur Arbeit lassen. Ohne die junge Generation wäre dieser Wandel jedoch niemals zustande gekommen.«

Eines von Paschinjans populärsten Vorhaben ist der Kampf gegen die Korruption. Nicht nur Oligarchen sollen entmachtet und vor Gericht gestellt werden. Auch die lange Zeit allgegenwär­tigen Schmiergeldzahlungen seien beinahe verschwunden, sagt Pogosjan. »Früher konnte man seinen Führerschein für einen mit Geld gefüllten Umschlag einfach so bekommen. Heute trauen sich die Leute das nicht mehr.«

Revolution für den freien Markt
In einem schmucklosen grauen Bürokomplex unweit vom Eriwaner Hauptbahnhof befindet sich die armenische Niederlassung des US-Softwareunternehmens Synopsis. Während der monatliche Durchschnittslohn in Armenien bei umgerechnet etwa 275 Euro liegt, verdienen viele Synopsis-Mitarbeiter eine vierstellige Summe. Wie viel genau, sagt der Projektmanager Vardan Hayrapetjan nicht. Vergangenes Jahr beteiligte er sich an den Protesten gegen Sersch Sargsjan. Er sagt, es sei vor allem die Mittelschicht, die in den kommenden Jahren den Wandel gestalten werde, den Paschinjan angestoßen hat. »Viele von ihnen arbeiten nicht im öffentlichen Dienst oder für staatliche Unternehmen.«

Vardan

Vardan Hayrapetjan ärgerte sich über die Korruption.

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Marcus Latton

Pragmatische Eigeninteressen seien für diese Leute entscheidend, etwa beim Hausbau: Früher hätten Schmiergeldzahlungen dabei nicht vermieden werden können. Für jede Genehmigung habe man eine Summe an einen Beamten bezahlen müssen. »Das Geld floss natürlich nicht in die Staatskasse. Irgendein Typ hat sich das einfach selbst in die Tasche gesteckt.« Als Hayrapetjan für seinen Hausbau in Eriwan eine Abwasserleitung verlegen wollte, die am Grundstück des Bürgermeisters vorbeiführen sollte, sei ihm die Baumaßnahme untersagt worden. Angeblich habe der Bürgermeister dies nicht gewollt. Auch Hayrapetjan sagt, diese Art von Korruption trete seit der Amtsübernahme Paschinjans nicht mehr auf.

Paschinjan hat nach seiner Amtsübernahme mehrmals von einer »ökonomischen Revolution« gesprochen, die Armenien durchlaufen müsse. In einer Rede vor Schweizer Geschäftsleuten in Zürich im Januar sagte er laut der englischsprachigen Zeitung The Armenian Weekly, Armeniens Ziel sei es, »reich zu werden und zu bereichern«. Dafür wolle er unter anderem Regulierungen für Unternehmen ­reduzieren und eine »Politik der offenen Tür« für ausländische Investoren betreiben.

Seine neue Regierung kündigt zudem eine Steuerreform an, nach der alle Armenierinnen und Armenier ­einen einheitlichen Einkommensteuersatz von 23 Prozent bezahlen sollen; bisher gilt eine progressive Einkommensteuer. Zudem soll die Sozialhilfe für die arbeitsfähige Bevölkerung verringert, dafür die Mindestrente von derzeit 29 Euro auf 47 Euro erhöht werden. Paschinjan schreibt auf seiner öffentlichen Facebook-Seite dazu in Anlehnung an den US-Präsidenten John F. Kennedy: »Frage nicht nur, was deine Regierung für dich getan hat. Frage auch, was du für dich selbst getan hast.«

Nur ein Machtwechsel
Es sind Worte wie diese, die Ani Mowsisjan in ihrer Abneigung gegen Paschinjans Regierung bestärken. Sie gehört zu denen in Armenien, die Anführungsstriche in die Luft malen, wenn sie die Worte »Samtene Revolution« aussprechen. »Für Paschinjan sind die Leute selbst an ihrer Armut Schuld. Doch ich frage mich: was hat er eigentlich für sich selbst getan, als er noch nicht in der Regierung war?« Ani Mowsisjan hat einen Großteil ihres ­Lebens in Russland verbracht, als Journalistin gearbeitet und wohnt seit ­vielen Jahren mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Eriwan. Sie kritisiert den Populismus Paschinjans – und den Personenkult um ihn. In vielen Ecken im Land gibt es T-Shirts, Plakate und Merchandise-Artikel, die das Konterfei des Ministerpräsidenten tragen. Er ist sehr populär – und Kritik kommt in den Augen vieler seiner Anhänger Majestätsbeleidigung gleich.

Ani Mowsisjan

Ani Mowsisjan traut auch Paschinjan nicht.

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Marcus Latton

Eine ambivalente Position zu den Veränderungen seit dem vergangenen Jahr nimmt Mamikon Hovsepjan ein. Er leitet die LGBT-Organisation Pink Armenia. Er und die meisten seiner Freunde haben die Proteste unterstützt. »Am Anfang dachten wir, es würde wie die meisten Demonstrationen der letzten Jahre werden und die Polizei schlägt einfach alle zusammen«, sagt Hovsepjan. »Aber dann haben wir ­gemerkt, dass es dieses Mal etwas anderes ist.« Das Thema Menschenrechte werde von der neuen Regierung ernster genommen als unter Sersch Sargsjan. Dennoch sei auch der vermeintlich liberale Paschinjan, was die Anerkennung von sexuellen Minderheiten betrifft, nicht fortschrittlich. Vergangenes Jahr sagte er bei einer Pressekonferenz, Armenien sei »eine traditionelle Gesellschaft«. Das Thema LGBT habe für ihn deshalb keine Priorität. In der Nationalversammlung hatte er zuvor gesagt, Schwule und Lesben würden der Regierung »Kopfschmerzen bereiten«.

»An der Homophobie der Gesellschaft hat sich in Armenien nichts geändert.« Mamikon Hovsepjan, Pink Armenia

»An der Homophobie der Gesellschaft hat sich in Armenien nichts geändert«, sagt Hovsepjan. In einer Studie, die Pink Armenia 2015 gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung veröffentlichte, sagten 90 Prozent der befragten Armenier, dass sie Lesben, Schwule und andere sexuelle Minderheiten ablehnten und dass deren Rechte beschränkt werden müssten. Aktivisten aus der Szene würden in sozialen Netzwerken oft bedroht. Paschinjan fange aus populistischen Gründen diese Stimmungen auf und widerspreche ihnen nicht. »Ich hoffe nur, er wird sich eines Tages für diese Bemerkungen entschuldigen«, so Hovsepjan. Ein Jahr nach der »Samtenen Revolution« sei es zu früh, um abschätzen zu können, wie erfolgreich der Ministerpräsident mit seinem politischen Wandel sein kann, meint er.

Auch die Erwartungen der NGO-Mitarbeiterin Pogosjan haben sich nur zum Teil erfüllt. Potential sehe sie weiterhin bei der neuen Regierung – aber auch viele Risiken. Armenien sei wegen seiner geographischen Abgelegenheit (die Grenzen zu Aserbaidschan und zur Türkei sind geschlossen) im Nachteil, was seine Entwicklung betrifft. Auch den Kampf gegen die Korruption sieht sie differenziert. »Klar, Paschinjan hat viele der Oligarchen in die Schranken verwiesen«, sagt sie. »Dafür hat er viele seiner eigenen Freunde mit Stellen in der Regierung versorgt.« Der Unterschied zur alten Machtelite sei nur: Die neuen Leute an der Macht sind etwas netter.