Sandra Carvalho, Justiça Global, über Präsident Bolsonaro und die Menschenrechtslage in Brasilien

»Rassistisch, machistisch, homophob«

Warum hat Brasilien einen Rechtsextremen an die Spitze gewählt? Ein Gespräch mit der Menschenrechtlerin Sandra Carvalho.
Interview Von

Präsident Jair Bolsonaro hat die brasilianische Militärdiktatur geehrt. Er behauptete gar, es habe gar keine Diktatur in Brasilien gegeben, da die Regierungsmacht am Ende »friedlich« übergeben worden sei, allenfalls habe es »einige Problemchen« gegeben. Warum unterstützen heutzutage so viele Menschen in Brasilien diese Idee?
Selbst nach einer Diktatur, in der mehr als 15 Jahre lang soziale und individuelle Rechte niedergemäht wurden, wird Demokratie nicht als unantastbar angesehen, manchmal sogar als wertlos. Die Beziehung der brasilianischen Führungsschicht zur Demokratie war immer konjunkturell. 1964 gab sie die Demokratie auf. Während des Amtsenthebungsprozesses gegen Dilma Rousseff gingen diese Leute auf die Straße, um die Rückkehr der Diktatur zu fordern, und unterstützten Bolsonaro. Viele in der Mittelschicht glauben nicht, dass die Regierung in Brasilien, weder auf Bundes- noch auf Regional- oder Gemeindeebene, nicht in die Hände der Arbeiterklasse oder linker Parteien gelegt werden sollte. Ein erheblicher Teil der Gesellschaft ist von der Meritokratie überzeugt (einer Herrschaftsordnung, deren Amtsträger aufgrund bestimmter Verdienste oder Leistungen ausgewählt werden, Anm. d. Red.), auch wenn soziale Mobilität fehlt, egal wie viele Verdienste man erbracht hat. Die Armen hatten nie Zugang zu einer vollständigen Demokratie. Im Gegenteil, sie werden weiterhin ausgeschlossen, sie werden an der Peripherie der Städte getötet oder in die überfüllten Gefängnisse des Landes gesperrt.

»Die Armen hatten nie vollständigen Zugang zur Demokratie. Sie werden weiterhin ausgeschlossen, an der Peripherie der Städte getötet oder in überfüllte Gefängnisse gesperrt.«

Bolsonaros Unterstützer sind nicht nur weiße Männer aus der Mittel- und Oberschicht, sondern sie kommen aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, selbst viele Arme, Schwarze und Frauen haben ihn gewählt. Was verbindet die unterschiedlichen Gruppen, dass sie diesen Rechtsextremen unterstützen?
Mehrere Faktoren, die nicht getrennt voneinander betrachtet werden können, ermöglichten den Wahlsieg Bolsonaros. Dazu gehörte etwa der sogenannte Antipetismus (bezieht sich auf das Kürzel der Arbeiterpartei: Partido dos Trabalhadores, PT, Anm. d. Red.). Diese Ablehnung der Arbeiterpartei führte zunächst dazu, dass sich die Stimmen des eher fortschrittlichen Wählerteils auf verschiedene Kandidaten aufteilten und später schließlich ein Teil Bolsonaro wählte. Der PT schätzte das Ausmaß, in dem mögliche Stimmen für Lula auf irgendeinen anderen PT-Kandidaten übertragen werden können, falsch ein (der populäre ehemalige Präsident Luiz Inácio Lula da Silva durfte wegen seiner Inhaftierung nicht antreten, schließlich kandidierte Fernando Haddad für den PT, Anm. d. Red.). Im Laufe der Jahre war sorgfältig ein öffentliches Bild der Arbeiterpartei konstruiert worden, das sie mit Korruption in Verbindung bringt, was dann zu ihrer Niederlage bei den Wahlen führte.

»Die Menschen haben gegen das System gestimmt.«

Die »antipetistische« Stimmung fand auch Raum in einer Bewegung, die das politische System sowie dessen Institutionen ablehnte, was zu einer Krise der politischen Repräsentation in Brasilien führte. Obwohl Bolsonaro selbst bereits 27 Jahre Bundesabgeordneter war, wurde er nicht als Vertreter der »alten Politik« angesehen. Im Gegenteil, er war als Parlamentarier politisch wenig in ­Erscheinung getreten, bekannt wurde er nur wegen seiner rassistischen, machistischen und homophoben Aussagen, was ihn allenfalls zu einer bizarren Karikatur machte. Nach und nach erhielt er mehr Aufmerksamkeit, verstärkt, als er in seiner Rede in der Abgeordnetenkammer zur Verteidigung der Amtsenthebung von Präsidentin Rousseff einen bekannten Folterer aus der Diktatur ehrte. Jair Bolsonaro wurde schließlich als Kandidat gegen das System angesehen. Dies trug zu seiner Wahl bei, der Wahl eines klaren Ver­treters der extremen Rechten; eines Mannes ohne große Vorstellungen und Ausdruckskraft, eines Konservativen, der einen moralistischen und voreingenommenen Diskurs betreibt. Ein bedeutender Teil der Bevölkerung identifizierte sich mit ihm.

Was spielte außerdem eine Rolle?
Es gibt eine religiöse Komponente. Auch die Stimmen der Evangelikalen waren für seinen Wahlsieg wichtig. Der Wertediskurs begünstigte Bolsonaros Aufstieg bei diesem Bevölkerungsteil. Während des Wahlkampfes, der mit dem Sieg Bolsonaros endete, blieben die Zustimmungswerte der Arbeiterpartei bei den Ärmsten am höchsten, bei den Reichsten gleichbleibend schlecht. Der entscheidende Unterschiede ergab sich bei der Mittelschicht, die dem PSL-Kandidaten letztlich zum Sieg verhalf.

Welche gesellschaftlichen Gruppen haben unter der neuen Regierung am meisten zu befürchten?
Diese Regierung betreibt eine große Offensive gegen indigene Völker, Quilombolas (Einwohner von Siedlungen, die einst von entlaufenen Sklaven gegründet wurden, Anm. d. Red.), Kleinbauern und traditionelle Gemeinschaften. Dies sind die Bevölkerungsgruppen, bei denen es um das Recht auf Land geht, um Schutzgebiete. Die Politik zum Schutz dieser Gruppen wird derzeit in großem Maßstab demontiert, zudem gibt es einen vollständigen Stillstand bei der Titelvergabe und Ausweisung von Land und Territorien sowie bei der Agrarreform. Des weiteren gibt es eine Offensive zur Flexibilisierung der Sozial- und Umweltgesetzgebung.

»Brasilien ist ein gefährliches Land für Menschenrechtsverteidiger.«

Im Januar hat der offen homosexuelle Abgeordnete Jean Wyllys von der linken Partei PSOL nach Morddrohungen, denen er monatelang ausgesetzt war, sein Mandat niedergelegt und ist aus Brasilien nach Europa geflohen. Vor einigen Wochen wurde Dilma Ferreira Silva, ein führendes Mitglied der Bewegung der vom Staudammbau Betroffenen (MAB), zusammen mit ihrem Ehemann und einem Freund erschossen. Wie sicher ist Brasilien derzeit für Oppositionelle und Menschenrechtsverteidiger?
Brasilien ist immer noch ein sehr gefährliches Land für die Arbeit von Menschenrechtsverteidigern, mit einer beträchtlichen Anzahl an Morden, Drohungen und Fällen von Kriminalisierung. Obwohl das Land seit 2004 ein Programm zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern (PPDDH) hat, ist das immer noch ein äußerst schwaches politisches Instrument, das nicht annähernd ausreicht. Die Situation wird durch die derzeitige Regierung weiter verschärft, da Aktivismus und die Verteidigung von Menschenrechten bei ihr kein hohes Ansehen genießen und angegriffen werden. Eine Konsequenz ist die am 1. Januar von der Bundesregierung veröffentlichte MP (Vorläufige Maßnahme) 870/2019, die als eine der Funktionen des Staatssekretariats des Präsidenten die »Betreuung, Koordination, Überwachung und Begleitung« von Organisationen der Zivilgesellschaft in Brasilien festlegt. Diese MP verstößt laut der Generalstaatsanwaltschaft der Rechte des Bürgers (Procuradoria Federal dos Direitos do Cidadão), einer Körperschaft der Generalstaatsanwaltschaft, gegen die Bestimmungen in Artikel fünf der Verfassung. Der Verfassungstext besagt, dass die Gründung sozialer Vereinigungen in Brasilien keiner Zulassung bedarf und dass staatliche Eingriffe in das Funktionieren dieser Institutionen verboten sind.

Eines der großes Wahlversprechen Bolsonaros war es, für mehr öffentliche Sicherheit und Verbrechensbekämpfung zu sorgen. Derzeit wird ein »Anti-Verbrechen-Paket« debattiert. Was beinhaltet dieses Gesetzesvorhaben und was sind kri­tische Punkte?
Das vom Justizminister Sérgio Moro vorgelegte Gesetzespaket zielt erneut auf die Verschärfung des Straf- und Verfahrensrechts ab. Das hat sich als unwirksam erwiesen, die öffentliche Unsicherheit vergrößert und Masseninhaftierung in Brasilien zur Folge. ­Neben der Gewalt und der Unterdrückung, die eine solche Strafpolitik begleiten, stärken diese Maßnahmen letztlich die verschiedenen kriminellen Fraktionen in den Gefängnissen, aus denen sich der Staat zurückgezogen hat. Dort herrschen fürchterliche Verhältnisse. Das Maßnahmenpaket hat nichts mit der brasilianischen Realität zu tun und ist weit davon entfernt, strukturelle Probleme zu lösen. Brasilien hat eine der gewalttätigsten Polizeien der Welt, es gibt Berichte über Massenhinrichtungen durch Staatsbedienstete, insbesondere Militärpolizisten. Das Paket enthält einen Punkt, der vorsieht, dass Richter Urteile gegen Polizisten aufheben können, wenn diese anführen, dass sie getötet haben, weil sie »heftigen Emotionen, entschuldbarer Angst oder Überraschung« ausgesetzt waren. Maßnahmen wie diese werden die Gewalt nicht reduzieren. Im Gegenteil, zu ermöglichen, dass Sicherheitsbeamte nicht für Tötungsdelikte verantwortlich gemacht werden, die aufgrund derart subjektiver Beweggründe begangen wurden, wird uns sicherlich in eine unheilvolle Lage bringen: Straflosigkeit, häufigere Verschleierung von extralegalen Hinrichtungen und ein Anstieg von Polizeigewalt.