»Matrix« und die Alt-Right-Bewegung

Filmisches Placebo

»Matrix« ist einer der meistrezipierten Science-Fiction-Filme der Gegenwart. Unter rechtsextremen Verschwörungstheoretikern erfreut er sich wachsender Beliebtheit.

Dies ist deine letzte Chance. Danach gibt es kein Zurück. Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus: Du wachst in deinem Bett auf und glaubst an das, was du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus.«

Es sind diese Sätze, die Neo gesagt bekommt, ehe er sich entscheiden soll, ob er die Wahrheit über die »Matrix« erfahren will. Er entscheidet sich für die rote Pille, woraufhin ihm Morpheus die Wahrheit über die Simulation eröffnet, in der die Menschheit in »Matrix« gefangen ist.

»Matrix« gilt als Synonym für eine weltweite Sklaverei, für die Herrschaft einer verschworenen, winzigen Gemeinde von Strippenziehern.

Die Visualisierung dieser Geschichte eines Auserwählten, der seine wahren Kräfte entdeckt und beginnt, gegen die titelgebende »Matrix« zu opponieren, fasziniert Zuschauer bis heute und gehört 20 Jahre nach ihrem Erscheinen zum allgemeinen Kultfilm-Kanon. Das lag neben pseudotiefsinnigen Einzeilern und der für die damalige Zeit revolutionären technischen Umsetzung wohl auch daran, dass die »Matrix« so viel Raum für Interpretationen ließ: Buddhistische Mystik bauten die regieführenden Wachowski-Geschwister genauso in den Auftaktfilm ihrer Trilogie ein wie antike, auf Platon zurückgehende Erkenntnistheorie, biblische Symbolik, esoterischen Schicksalsglauben oder Warnungen vor dem technischen Fortschritt und der menschlichen Hybris.

Dieser große Interpretationsspielraum machten »Matrix« und seinen Protagonisten Neo zur perfekten Projektionsfläche. Der Film gilt als Musterbeispiel sogenannter »Red Pill Movies«. Das Bild der roten Pille aufgreifend, die in »Matrix« für die Abkehr vom schönen Schein steht, handelt es sich dabei um Filme, die das vermeintlich wahre Wesen der menschlichen Gesellschaft sowie die ihr zugrunde liegenden unbequemen Wahrheiten aufzudecken meinen oder scheinen.

Der Begriff wird vor allem von der Alt-Right-Bewegung verwendet, wobei »Red Pill« ursprünglich ein Code der amerikanischen Männerrechtsbewegung war. Dort versinnbildlicht er die Erkenntnis der Männerrechtler, dass sie in einer von Frauen dominierten, frühsexualisierten Gesellschaft leben würden, die sie verweichlicht und ausnutzt. Wer die rote Pille also nicht genommen hat, entscheidet sich damit automatisch für die blaue Pille, die das »Erwachen« aus dem Zustand der Ahnungslosigkeit verhindert und den Einzelnen zum blinden Untertan degradiert. 2016 erschien mit »The Red Pill« gar ein Dokumentarfilm, in dem Regisseurin Cassie Jaye der amerikanischen Männerrechtsbewegung ein Podium bot, das diese dazu nutze, unwidersprochen die Ansicht zu verbreiten, Männer würden systematisch benachteiligt.

In den solchen Bewegungen nahestehenden Kreisen ist »Matrix« längst eine Metapher für die reale Welt geworden. Es reicht ein kurzer Blick in die Kommentarspalten unter Videosequenzen aus dem Film, um zu erahnen, welche Rolle dem Science-Fiction-Epos in der Konstituierung verschwörungsideologischer Weltbilder zukommt: Dramatische Appelle, sich aus einem Zustand der Gehirnwäsche zu befreien, wechseln sich ab mit Berichten von Menschen, die glauben, wortwörtlich in einer Computersimulation zu leben, die von »denen da oben« kontrolliert werde. Im weitergehenden Gebrauch dient »Matrix« auch als Synonym für eine weltweite Sklaverei, die Unterdrückung der ärmeren Teile der Menschheit sowie die damit verbundene Kontrolle einer verschworenen, winzigen Gemeinde von Strippenziehern über Geld und Medien.

Matrix

Perfekte Projektionsfläche. In der Alt-Right-Bewegungen ist »Matrix« eine Metapher für die reale Welt geworden.

Jenen selten explizit genannten, mächtigen Hintermännern wird offenkundig eine enorme Macht unterstellt, was weniger aus der Erklärungskraft beliebiger Verschwörungstheorien als vielmehr aus der schier grenzenlosen Paranoia der Verschwörungstheoriker folgt. Auf dem Männerrechtler-Abklatsch des Online-Lexikons Wikipedia, »Wikimannia«, heißt es beispielsweise im Artikel zu »Matrix« und der »roten Pille«: »Für sie sind wir nur Spielzeug, was auf ihren Befehl hört und was sie zerstören, wenn sie Lust dazu verspüren. Sie sitzen in den obersten Regierungs­etagen, in den größten und mächtigsten Firmen, in den Chefetagen von Banken oder anderen Einrichtungen, die viel Geld erwirtschaften oder kontrollieren können. Doch wisse mein Freund, dass du nicht allein bist, dass die Zeit gekommen ist, sich diesen Dunklen entgegenzustellen, sich gegen sie zu erheben und sie von diesem Planeten zu verjagen.«

Fast jede Szene des Films muss für krude Ansichten herhalten.

Gedanklich setzen sich die Anhänger solcher Phantastereien an die Stelle der schicksalhaft Auserwählten, die den Kampf gegen die hinterlistigen Verschwörer anführen. Sie inszenieren sich als ehemals selbst Unwissende, die zumeist durch das Internet Zugang fanden zu dem, was sie für die Wahrheit halten. Unmissverständlich zu definieren, was genau die »Matrix« nun sei, vermag jedoch keiner der selbsternannten Verkünder der Wahrheit: Genauso beliebig wie der popkulturelle Bezug auf den Film hergestellt wird, muten auch die vagen Andeutungen über dessen Bedeutung an. Übergreifend als wahr angenommen wird nur die Gewissheit, dass »Matrix« die Voraussetzung dafür ist, eine verkommene Welt zu erfassen.

Die Bereitschaft, abstruse Erzählungen für bare Münze zu nehmen, erreicht indessen nicht nur in dubiosen Online-Foren starke Verbreitung: So hat das Video »Die okkulte Bedeutung der Matrix-Trilogie« des Youtubers Tilman Knechtel, der auf seinem Kanal »TrauKeinemPromi« über imaginierte satanische Verschwörungen in der Film- und Musik­industrie spricht und leicht durchschaubar antisemitische Stereotype aufwärmt, beispielsweise über eine halbe Million Klicks. In dem Video muss fast jede Szene des Films als Metapher für die kruden Ansichten Knechtels herhalten.

Auch der Identitären-Vordenker Martin Sellner schrieb in der jüngst erschienenen Ausgabe des Magazins Compact einen Artikel mit dem programmatischen Titel »Nimm die rote Pille!« und gab darin Empfehlungen zum heroischen Widerstand: »Die unpolitische Idylle erkaufst du dir durch dein Schweigen und dein Mitmachen. Es gibt tausend Möglichkeiten, aus der Matrix auszutreten, aktiv zu werden und andere zu redpillen.« Dass Identitäre wie andere Neurechte sich auf jenes Prinzip des plötzlichen Erwachens beziehen – des Umschlagens von einem Zustand der Unwissenheit in Erleuchtung ohne einen längeren Prozess der Reflexion –, ist bezeichnend, gerade weil die Vorstellung, umstandslos von Unwissenheit zu Klarsichtigkeit zu gelangen, so primitiv anmutet.

Weitere mit dem Konzept des »Red Pill Movie« in Verbindung gebrachte Filme folgen einem durchaus ähnlichen Grundmuster wie »Matrix«: »Die Truman Show« (1998) thematisiert beispielsweise eine recht harmlose Verschwörung gegen den Protagonisten, der sich nicht darüber klar ist, in einer Reality-Show zu leben, während die Hauptfigur in »Sie leben!« (1988) durch eine Brille erkennt, dass hinter Werbebotschaften, Konsumartikeln und harmlos wirkenden Geschäftsmännern eine geheime Clique die Menschheit unterdrückender Außerirdischer steckt. Letzterer Film verbleibt im Gegensatz zu anderen »Red Pill Movies« nicht im Schematischen, sondern präsentiert konkrete Wesen als Personifikation des Bösen, was ihn mindestens anschlussfähig für antisemitische Verschwörungstheorien macht.

Die Menschen, die jene »Red Pill Movies« verehren, glauben, in deren Geschichten die Wahrheit über tatsächliches Zeitgeschehen zu erblicken, entweder in ganz manifester, mindestens aber in struktureller Form. Die Unterkomplexität der nicht nur von »Matrix« kreierten Welterklärung bietet ihren Anhängern die Möglichkeit, einer Ideologie zu frönen, die von außen nicht angegriffen werden kann. Alle, die die fin­steren Machenschaften einer ominösen Elite nicht anerkennen, oder immer noch an Erscheinungen vermeintlich westlicher Dekadenz wie Pluralismus, Feminismus und Menschenrechten festhalten, sind eben noch nicht »redpilled« und verbleiben in der alles umfassenden Si­mulation. Ein fundamentaler, manichäischer Gegensatz zwischen den erleuchteten Auserwählten und den verblendeten Gutgläubigen wird zum Grundmuster, an dem sich der Kampf gegen die liberale Demo­kratie auszurichten soll. Der simple Kampf von Gut gegen Böse ist das immer wiederkehrende Motiv der »Red Pill Movies« und gleichzeitig der Grund für ihre Attraktivität.