Klimapolitik und Standortpolitik

Primat des Profits

Dass der Klimawandel die Existenz des menschlichen Lebens bedroht, ist auch in der Politik angekommen. Doch es passiert fast nichts. Selbst ein grüner Ministerpräsident denkt in erster Linie an die heimische Autoindustrie.

Jahrtausende lang lebten Menschen in der religiös begründeten Angst, menschliches Fehlverhalten könne die Auslöschung ihrer Art durch einen Akt höherer Gewalt auslösen. Ein Treppenwitz der Aufklärung: Mit allem, was heute über den Klimawandel und seine Folgen bekannt ist, gibt es völlig rationale Gründe, von einer Bedrohung für die Existenz menschlichen Lebens auf der Erde auszugehen, die ­anders als die Gefahr eines Nuklearkrieges nicht direkt von bewusst handelnden Menschen ausgeht. Doch ­gerade unter denen, die nicht mehr zugänglich sind für religiöse Weltuntergangsszenarien, lässt sich auch eben jene Tendenz beobachten, auf die weltliche Bedrohung abwiegelnd und ausweichend zu reagieren. Es ist das Umschlagen von Rationalität ins Rationa­lisieren. Dabei zeigt in dieser Frage die Faktenlage, dass es nicht fünf vor zwölf ist – es ist längst nach zwölf.

Wann, wenn nicht jetzt, kann man Alarm schlagen, ohne als Alarmist abgetan zu werden?

Es ist ein viel zu wenig beachtetes Problem: Zumindest in Europa stellen nicht die harten Leugner des Klimawandels das größte Hindernis für eine entschiedene Klimapolitik dar, sondern die moderat Besorgten, die Technikutopisten, kurz: die Klimazentristen. Sind in der Gesamtgesellschaft bei Klimafragen eher Apathie und ein kollektives Abwarten verbreitet, ist die spezifisch linke Ausformung des Klimazentrismus das Verschieben der Lösung auf eine Zeit nach der Abschaffung des Kapitalismus, in der die entfesselten Produktivkräfte zur Rettung des Lebensraums Erde eingesetzt werden können.

Doch verweisen etwa Potsdamer Forschende in ihrer als »Heißzeit-Studie« bekannt gewordenen Arbeit von 2018 auf mögliche Kipppunkte in der globalen Temperatur, ab denen selbstverstärkende Effekte die Erde unweigerlich unbewohnbar machen könnten. In der Studie heißt es: »Momentan befindet sich das Erdsystem, getrieben von menschlichen Emissionen von Treib­hausgasen und Zersetzung der Biosphäre, auf dem Weg zu einer ›Treib­haus‹-Erde hin zu einem planetarischen Schwellenwert von ca. 2°C, über den hinaus das System, getrieben von intrinsischen biogeophysikalischen Rückkopplungseffekten, einem im Grunde unumkehrbaren Verlauf folgt.« In den Sachstandsberichten des Weltklimarats IPCC tragen Tausende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Stand der Forschung zum Klimawandel, seiner Bekämpfung und seiner Folgen zusammen.

Der aktuelle Bericht von 2018 hält fest, dass die Menschheit für eine enorme Senkung der CO2-Emissionen nur noch bis zum Jahr 2030 Zeit hat, um die Folgen des Klimawandels in einem zu bewältigenden Rahmen zu halten. Die Erwärmung muss, so der Bericht, auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden, denn schon bei zwei Grad Celsius wäre die menschliche Anpassung enorm erschwert. Noch das engagierteste Projekt, auf dass sich Regierungen einigen konnten, reiche dabei nicht aus: »Modellverläufe, die die Bestrebungen (des Pariser Abkommens, Anm. d. Aut.) reflektieren, würden die Erwärmung nicht auf 1,5°C limitieren, selbst wenn sie durch sehr herausfordernde Steigerungen in der Skala und Ambition von Emissionsreduktionen nach 2030 ergänzt würden.« Dies ist der wissenschaftliche Konsens in der Klimaforschung. Man muss schon das Erkenntnissystem Naturwissenschaft an sich in Frage stellen, um weiter zu zögern. Wann, wenn nicht jetzt, kann man Alarm schlagen, ohne als Alarmist abgetan zu werden? Während die Klimakatastrophe also bereits im Gange ist und entschlossenes Handeln notwendig wäre, wird krampfhaft ­versucht, auch an den schlimmsten Klimakillern festzuhalten, indem man etwa den durch Fleisch aus Massentierhaltung oder zahllose Inlandsflüge verursachten Schaden durch technische Lösungen auszugleichen sucht. Das auch bei Stefan Laurin angedeutete Vertrauen auf ­zukünftige Technologien führt zu fatalen Fehleinschätzungen.

Weiter nur auf die heilsamen Kräfte des kapitalistischen Fortschritts zu vertrauen, ist Traumtänzerei.

So tauchen in den Prognosen des IPCC bereits technische Lösungen in Form von moderaten Carbon-Capture-Methoden auf, die das temporäre Überschreiten der Marken von 1,5 oder zwei Grad Celsius kompensieren. Dabei darf nicht vergessen werden: Jenseits naheliegender Methoden wie Aufforstung stehen solche Techniken noch gar nicht zur Verfügung. Die Verfahren, mit denen in der Zukunft Klimagase aus der Atmosphäre zu filtern wären, sind im Augenblick nur Hypothesen. Angesichts dessen wirken die Hoffnungen, sogenanntes Geo-Engineering in großem, weltumspannenden Maßstab würde unsere Probleme in diesem Jahrhundert lösen, schlicht wahnwitzig. Vorgeschlagene Methoden reichen hier von der Ozeanspeicherung von CO2 über die Freisetzung von Aerosolen in der Atmosphäre und »Wolkenaufhellung« bis hin zur Installation riesiger Spiegel im Erdorbit. Selbst die realistischeren Vorschläge hätten kaum absehbare Auswirkungen auf verschiedene Ökosysteme und sollten daher als letzte Mittel in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts angesehen werden. Auch stehen die Nettogewinne solcher Maßnahmen für den weltweiten Klimahaushalt teilweise immer noch weit hinter der Bedeutung etwa der Rettung des brasilianischen Regenwaldes oder der Abkehr von industrieller Massentierhaltung zurück.

Selbstverständlich kann etwa das von Laurin erwähnte »Fabrikfleisch« dabei eine wichtige Rolle spielen. Doch allein weiter auf die heilsamen Kräfte des kapitalistischen Fortschritts zu vertrauen, ist Traumtänzerei und nicht minder gefährlich als der Obskurantismus der Leugner des Klimawandels. Schließlich zeigt kaum etwas die Grenzen und Gefahren der kapitalistischen Produktionsweise so eindrücklich auf wie die Unfähigkeit, innerhalb ihres Rahmens akkurat auf die Bedrohung durch den eben maßgeblich durch diese Produktionsweise verursachten Klimawandel zu reagieren. Unter dem Primat des Profits ist Naturbeherrschung, wann immer rentabel, auch Naturzerstörung. Unter dem Primat des Profits ist Politik stets Standortpolitik. Daher reicht es nicht aus, lediglich die Wahl von Leugnern des Klima­wandels wie Donald Trump und Jair Bolsonaro zu verfluchen.

Zwar hat ihre ­Politik die weltweiten Anstrengungen tatsächlich zurückgeworfen, jedoch versäumen diese, die viel grundlegenderen Ursachen für mangelnde Bereit­schaft zu wirkungsvollen Änderungen zu benennen. Denn auch ein grüner Ministerpräsidenten denkt zuerst an seine heimische Automobil­industrie. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte den Klimawandel auf der Bonner Klimakonferenz 2017 zwar zur »Schicksalsfrage« für die Menschheit – aber schon im Koalitionsvertrag vom März 2018 verabschiedete sich ihre Regierung von den bescheidenen früheren Zielen zur Reduzierung des Treibhausgasausstoßes. Während die Klimazentristen der politischen Mitte also den wissenschaftlichen Konsens anerkennen, ihre Politik jedoch nicht in Einklang mit den erforderlichen Konsequenzen bringen, muss man den Rechtspopulistinnen und Rechtspopulisten, die mit übelster Hetze gegen grüne Positionen auf Stimmenfang ­gehen, wenigstens die Konsequenz zugestehen, den Klimawandel gleich komplett zu leugnen.

Aus den genannten Gründen ist die drohende Klimakatastrophe das schlagende Argument für den Sozialismus. Nur eine Ordnung, die mit grundlegend antagonistischen Mechanismen aufräumt, scheint in der Lage, das notwendige Zivilisationsprojekt der Dekarbo­nisierung überregional und vor allem schnell genug durchzuführen, und die Lasten durch radikale Demokratisierung aller Lebensbereiche fair zu verteilen.

Es wäre jedoch fatal, hier eine falsche Dichtomie zwischen Realpolitik und radikaler Kritik zu sehen. Im Gegenteil: Nur durch eine radikale Perspektive werden Aktionen wie Klima­streiks Wirkung erzielen, nur durch einen Eintritt in die Klimakämpfe vermag radikale Kritik zu überzeugen. Radikale Elemente deuten sich in den »Friday for future«-Schulstreiks bereits an. Am 15. März schrieben in der FAZ Greta Thunberg und sechs weitere junge Aktivistinnen, dass es der Bewegung längst nicht mehr nur um Emissionsverringerung gehe, sondern auch darum, »schwierige Fragen darüber zu stellen, wie wir unsere Volkswirtschaften neu organisieren, und wer die Gewinner und wer die Verlierer sein werden«. Diese wirklich internationale Bewegung stellt Aktion von ­unten dar, die längst nicht mehr nur im Partikularismus verharrt und ­neoliberalen Postulaten der individuellen Konsumverantwortung folgt.