Klimaproteste in Großbritannien

Rebellion in London

In London haben Tausende Menschen aus Protest gegen die britische Klimapolitik tagelang Verkehrsknotenpunkte besetzt. Die Aktion zeigt bereits Erfolge, die Stimmung im Land ändert sich.

Das rosa Segelboot mit dem Namen »Berta Cáceres«, das durch den morgendlichen Verkehr der Londoner Innenstadt gezogen wurde, fiel zunächst wohl kaum jemanden auf. Doch das änderte sich sehr schnell, als der Anhänger mit dem Boot mitten auf der Straßenkreuzung Oxford Circus zum Stehen kam und von Dutzenden Protestierenden umringt wurde, von denen sich einige an den Anhänger ketteten.

Die gehässige britische Boulevardpresse höhnte anfangs über die »Öko-Mittelschicht mit ihrem Umweltausraster«, doch die Protestierenden gewannen schnell an Zustimmung.

Am Montag vor Ostern, dem Beginn der Osterferien in Großbritannien, besetzten Mitglieder der Umweltschutzgruppe »Extinction Rebellion« (XR) gleichzeitig vier zentrale Verkehrswege in London. Am Marble Arch am Rande der westlichen Innenstadt bauten sie ein Protestcamp auf. Die Waterloo Bridge über die Themse wurde mit einem quergestellten Laster abgesperrt, die Betonbrücke mit Dutzenden Bäumen und Blumen geschmückt und in eine Bühne verwandelt. Vor dem Parlament in Westminister, wo in den vergangenen Monaten meist Befürworter und Gegner des britischen EU-Austritts protestiert hatten, blockierten die Umweltschützerinnen und Umweltschützer ebenfalls alle Straßen, um dort eine »Bürgerversammlung« abzuhalten.

An jedem der Orte versammelten sich sofort Gruppen von Protestierenden um die Straßenblockaden und machten der allmählich eintreffenden Polizei klar, dass sie sich nicht freiwillig bewegen würden und festgenommen werden müssten. Diese »arrestables« erklärten ihren zivilen Ungehorsam, während hinter ihnen andere Aktivistinnen und Aktivisten mit dem Aufbau der Protestinfrastruktur ungestört weitermachen konnten. So gelang es XR innerhalb einiger Stunden, nicht nur wichtige Teile der Londoner Innenstadt autofrei zu machen. Alle vier Blockaden konnten tagelang gehalten werden. Am Donnerstag vergangener Woche beendete »Extinction Rebellion« den zehntätigen Protest. Tausende Menschen hatten sich daran beteiligt.

Mit ihrer versierten Protesttaktik verliehen die Klimaschützerinnen und Klimaschützer ihren drei zentralen Forderungen Nachdruck: Demnach soll die Regierung den Klimanotstand ausrufen, eine »Bürgerversammlung« zum Klimawandel einberufen und Schritte einleiten, damit der Netto-Treibhausgasausstoß in Großbritannien bis 2025 auf null reduziert wird. Die britische Öffentlichkeit erfreute sich dank der Proteste einer höchst willkommenen Verschnaufpause vom Dauerthema EU-Austritt. Die Aktionen und Argumente der Klimaschützerinnen und -schützer ähneln denen der Schulstreikbewegung »Fridays for Future« und sind politisch anscheinend ebenso schwer zurückzuweisen.

So äußerte sich die normalerweise höchst gehässige britische Boulevardpresse zwar anfangs noch erwartungsgemäß abfällig über die »Öko-Mittelschicht mit ihrem Umweltausraster« und spiegelte die umfangreichen Beschwerden von Londoner Auto- und Taxifahrern. Innenminister Sajid Javid, der sich derzeit als Nachfolgekandidat für die angeschlagene Premierministerin Theresa May positioniert, forderte lautstark ein kompromissloses Vorgehen der Polizei gegen die »Gesetzesbrecher«. Doch im Laufe der Proteste änderte sich die Stimmung deutlich. Immer mehr Kommentare auch in konservativen Zeitungen erkannten die Forderungen der Protestierenden als berechtigt an, wenn sie vielleicht auch unrealistisch seien. Auch bei den Londonerinnen und Londonern, die für einige Tage unter anderem eine autofreie Oxford Street genießen konnten, gewannen die Protestierenden immer mehr Zustimmung. Politiker reagierten: Der Vorsitzende der Labour-Partei, Jeremy Corbyn, traf die Protestierenden mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Oppositionsparteien am Dienstag. Umweltminister Michael Gove kündigte am selben Tag an, er wolle mit Vertretern von XR sprechen.

Zuvor hatte Greta Thunberg, die ohnehin zu Besuch in London war, ihre Solidarität mit der XR erklärt. Viele der Beteiligten an den Londoner Protesten wiesen auf die Schülerstreiks als Inspiration ihrer Aktionen hin, auch wenn XR einen anderen Ursprung hat. Die Gruppe wurde im Oktober 2018 von einer Handvoll Veteranen der radikalen britischen Umweltbewegung und Klimawissenschaftlern gegründet, die auch die Strategie entwarfen. Im November veranstaltete die Gruppe eine erste Runde von Blockaden in der Londoner Innenstadt, die allerdings nur ­einen Tag dauerten und wenige Festnahmen nach sich zogen.

Die Polizei nahm im Laufe der Proteste mehr als 1.100 Menschen fest.

Vergangene Woche nahm die Polizei im Laufe der Proteste über 1 100 Menschen fest. Das durchweg friedliche Vorgehen der Protestierenden machte übliche polizeiliche Aufstandsbekämpfungsmittel wie die Verwendung von Schlagstöcken, das Einkesseln von Demonstrierenden oder den Einsatz von Pferdestaffeln politisch wenig opportun. Die Protestierenden hatten wiederholt betont, dass sie die Polizei nicht als Gegner ansähen. Einige linke Gruppen kritisierten dieses Verhalten vehement. XR sei weitgehend von Personen geprägt, die aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres sozialen Hintergrunds keine Erfahrung mit Polizeigewalt hätten, hieß es.

Mitglieder von XR hielten dagegen, dass sie ihre »Privilegien« bewusst nutzen würden. Viele andere Menschen, auch in anderen politischen Kontexten, könnten nicht so vorgehen, und genau deswegen müssten sie es tun. Das rosa Segelboot vom Oxford Circus hatte XR nach der 2016 ermordeten Umweltschützerin Berta Cáceres aus Honduras benannt.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang allerdings auch die Rolle von Jahren intensiver Antirepressionsarbeit durch kritische Journalisten und Linke in Großbritannien. 2009 hatte es bei einem vergleichbaren Versuch von Klimaschützern, ein Protestcamp in der Innenstadt von London während des damaligen G20-Gipfels zu errichten, brutale Polizeiübergriffe gegeben. Das damalige Camp mitsamt seinen durchweg friedlichen Protestierenden wurde unter Schlagstockeinsatz binnen weniger Stunden aufgelöst. Dabei wurde der an den Protesten unbeteiligte Zeitungsverkäufer Ian Tomlinson von einem Polizisten getötet. Politischer Druck und kritische Aufklärungsarbeit führten danach zu einer Änderung der Richtlinien für Einsätze der Londoner Polizei.

Davon profitierten nun die Mitglieder von XR. Sie nutzten auch die Erfahrungen früherer Protestcamps in der Stadt, wie Occupy London Stock Exchange von 2011. So wurde zwar größter Wert auf Massendemokratie und offene Versammlungen gelegt, zugleich legten die Organisatorinnen und Organisatoren der Camps aber ihr Verständnis von »post-consensus« dar. Damit meinten sie, dass wichtige Entscheidungen zwar von allen diskutiert und beschlossen werden, Organisatorinnen und Organisatoren aber strategische und taktische Vorschläge machen, die die Diskussionen eingrenzen. Auch der kompromisslose Verzicht auf Alkohol und Drogenkonsum wurde in den Camps von XR durchgesetzt.

Doch die wohl wichtigste Lehre aus der »Occupy«-Bewegung zog XR durch die selbstgewählte »Pause« der Proteste denn die ununterbrochenen »Occupy«-­Proteste verliefen letztlich im Sande. Anstatt nun die Camps auf Dauer zu halten, zogen sich die Protestierenden nach zehn Tagen zurück – mit dem Versprechen, bald wiederzukommen.