So klangen die Neunziger

Ein wenig Pop, ein wenig Avantgarde, ein wenig Politik: Stereolab vereint wie kaum eine zweite Band die Stärken der neunziger Jahre.

In Laboren werden Dinge untersucht. So weit, so einfach. Doch was passiert, wenn statt Haaren, Blut oder einem ­Medikament der Klang auf dem Untersuchungstisch landet? Die 1990 in London gegründete Band Stereolab hat dieses Labor eröffnet, es fast 20 Jahre lang betrieben und in dieser Zeit die Geräusche, die man ­Instrumenten entlocken kann, erforscht, sich mit ihnen abgemüht und unter ihnen gelitten, ganz so, wie es der wörtlichen Übersetzung des ­lateinischen laborare entspricht.

Stereolab haben während ihrer ersten Jahre zwei Musikgenres maß­geblich mitgeprägt: Dream Pop und Post-Rock. Beiden ist gemeinsam, dass auf zur Schau gestellte (oder besser: zu Gehör gebrachte) Gitarrenriffs verzichtet wird. Beide Stilrichtungen wollten ihrer Musik einen gewissen sphärischen Sound verleihen, aber aus unterschiedlichen Gründen: Der Dream Pop nahm das Pop in seinem Namen ernst und übte die Verführung mit Hilfe von sanftem Gesang und des Tamburines, während der Post-Rock wiederum das Präfix Post ernst nahm und mit dem ganzen breitbeinigen Gehabe brechen wollte, um experimentieren zu können. Stereolab hingegen ­haben sich nie so recht zwischen diesen Möglichkeiten entschieden, wie man jetzt sehr gut auf den ersten wiederveröffentlichten Alben nachhören kann, denen im Laufe des Jahres der Rest der Diskographie folgen wird.

Stereolab heute, ganz rechts Lætitia Sadier.

Bild:
Steve Double

Erstes Reissue wird leider nicht der Erstling der Band, »Peng!« von 1992 sein (auch die fabelhaften ersten EPs der Band sind nicht Teil der Neuauflage), dafür macht das ein Jahr später erstmals veröffentlichte »Transient Random-Noise Bursts with Announcements« den Anfang. Diesen Titel sollte man sehr ernst nehmen, ist er doch nicht nur eine sehr präzise ­Zusammenfassung des Vorhabens, sondern dabei auch eine gute Charakterisierung der neunziger Jahre – man denke nur an das Musikfern­sehen mit seinen bunten Videos und der grellen Werbung.

Das Album eröffnet mit der wohl simpelsten musikalischen Konven­tion, die es gibt, nämlich mit »La-La-La«, gesungen von der 2002 tödlich verunglückten Mary Hansen. Ganz so zart geht »Tone Burst« allerdings nicht weiter, immerhin verspricht der Titel das Platzen des Tons. Zum Bersten gebracht wird er mit Hilfe einer elektronischen Orgel der Firma Farfisa, ein Instrument, das den Sound der Band stark prägte. Daneben wird gleich auf drei Gitarren, dem Schlagzeug und dem Moog-Synthesizer gespielt – nicht nur der Eröffnungstrack, sondern das gesamte Album ist geradezu überinstrumentiert.

Die radikale Idee scheint zu sein, Pop mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.

Angefangen hat aber trotzdem alles mit dem »La-La-La«, um in einer Kakophonie zu enden. Es ist das Movens der Band, nämlich das Einfache mit dem Komplizierten, des Unaufdringliche mit dem Aufdringlichen zusammenzuzwingen. Das erreichen sie nicht nur durch den immer exzessiver werdenden Gebrauch von Instrumenten, sondern auch, wie man es beim zweiten Song »Our Trinitone Blast« hören kann, durch radikale Tempowechsel. Nach jedem Refrain steigt hier der Takt an, die Melodie wird von Mal zu Mal schneller gespielt, bis der Song schließlich wieder mit dem Gesang »Uh-Hu-Uh« endet. Grund für diese Fusion sind die unterschiedlichen Vorlieben für Musik, die die Band pflegte. Neben Krautrock taucht da nämlich auch Easy Listening auf, ein Genre, das in den Neunzigern auf viel Interesse bei alternativen Bands stieß. Die Hintergrundmusik in den Vordergrund zu stellen, zeugt von einer radikalen Idee von Pop, die der Musikkritiker Simon Reynolds als »musiac« bezeichnete, nämlich ein musikalisches Mosaik mit Muzak, wie die ziemlich punkig klingende Bezeichnung für Kaufhaus- oder Fahrstuhlmusik ­lautet. Die radikale Idee scheint zu sein, Pop mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, nämlich nicht auf die simplen Melodien zu verzichten, die das potentielle Publikum umschmeicheln, und diesem zugleich noch andere, neue Klänge unterzujubeln, für die es sonst gar nicht ­zugänglich wäre. In den Neunziger konnte man damit sogar berühmt werden, siehe Björk, die stark beeinflusst von avantgardistischen Kom­positionen war und genau deswegen oder vielleicht doch trotzdem eine riesige Zuhörerschaft erreichen konnte.

Ähnlich wie bei der Isländerin erinnern auch viele Lieder der in London gegründeten Stereolab stimmlich an Kinderlieder. Das hat zu tun mit der Intonation der Sängerin Lætitia Sadier, deren Stimme in die höchsten, fast kleinkindlich klingenden Höhen klettern kann. Dazu kommt ihr französischer Akzent, manche Lieder sind gar auf Französisch gesungen und zitieren zusätzlich zu den mittlerweile unzähligen Referenzen auch noch den poppigen Chanson der Sechziger und frühen Siebziger. Das wohl bekannteste Lied der Band, »French Disko«, trägt das Französische gleich im Titel und spielt erneut derart mit dem Tempo, dass sich ein Youtube-Nutzer unter einem Mitschnitt einer Fernsehaufführung des Songs den Kommentar nicht verkneifen konnte, er habe am Anfang gedacht, das Video würde zu schnell abgespielt werden. Der Song erschien nie auf einem offiziellen Album der Band, ein früher und sehr roher Mix lässt sich aber auf dem Reissue von »Transient Random-Noise Bursts with Announcements« nachhören.

Die Texte der Band führten immer wieder bei den Kritikern zu dem Schluss, es handele sich bei ihnen um Marxisten. Dafür lassen sich auch Nachweise finden, beispielsweise hat sich Lætitia Sadier des Öfteren als stark inspiriert durch Guy Debord und die Situationisten bezeichnet. Im Song »Ping Pong« von der LP »Mars Audiac Quintet« (1994) geht es um den Kondratjew-Zyklus des gleichnamigen sowjetischen Wirtschaftswissenschaftlers, der damit Konjunkturwellen im Kapitalismus untersuchte, im Song »Crest« auf der Vorgängerplatte wird mit den Zeilen »If there is a way to build it /There’ll be a way to destroy it / Things are not all that out of control« ganz fix eine griffige Zusammenfassung des historischen Materialismus geliefert. Ganz direkt kommt so etwas wie eine politische Stellungnahme in dem wohl bedeutendsten Stück der Band zum Tragen: »Jenny Ondioline«, benannt wie ebenfalls eine Handvoll anderer Lieder der Band nach ­einem Musikinstrument, in diesem Fall nach dem frühen Synthesizer Ondioline. Der Text dreht sich, sagte Sadier in einem Interview, um die Weimarer Jahre, um den Kampf Faschismus gegen Sozialismus, und endet mit dem Aufruf, sich die Hoffnung zu bewahren, denn laut Sadier befand sich die Welt Anfang der Neunziger in einer ähnlichen Situation wie Deutschland in den zwanziger Jahren. Diesen überzogenen Vergleich verzeiht man aber sogleich, wenn man das Lied hört, denn so sehr, so darf man interpretieren, geht es der Band eh nicht um ihre Texte, dafür fallen sie auch, was durchaus seinen Reiz hat, viel zu holzschnittartig aus. Nein, die Texte sind vor allem zu verstehen als Grundlage für mehr Krach. Bei vielen Songs singen Sadier und Hansen zusammen als gemischter Chor einen Kanon, nämlich exakt dasselbe, nur eben zeitversetzt. Bei »Jenny Ondioline« kommt noch das gesprochene Wort dazu, ein kleiner Satz wird aufgesagt, bevor wieder mal eine Kakophonie einsetzt. Das Lied ist sage und schreibe 18 Minuten lang, umfasst grob gesagt drei Teile und klingt im zweiten davon mit seiner sich endlos wiederholenden ­Melodie und dem monotonen Schlagzeug wie eine Coverversion des Stücks »Hallogallo« der Krautrockband Neu!. Ein Sog entfaltet sich hier, wie man ihn sonst nur von dem improvisierten »Sister Ray« von The Verlvet Underground kennt.

Das große Interesse nicht nur an Retro-Sound sondern auch an einer solchen Ästhetik lässt sich am Plattencover von »Transient Random-Noise Bursts with Announcements« sehen. Es zeigt ein stark stilisiertes Bild ­eines Tonabnehmers über einem Plattenteller, das Bild stammt aus einer Ausgabe der Zeitschrift Hi-Fi Sound von 1969. Auch die späteren Albencover haben etwas seltsam ­Eigenes an sich, weisen mit geometrischen Formen in die Zukunft, während die Farbgestaltung doch mehr an die siebziger Jahre erinnert. Die meisten von ihnen gestaltete der Graphikdesigner Julian House.

Während Britpop reüssierte, ­Grunge mit Kurt Cobain starb und Indie Mainstream wurde, entschieden sich Stereolab für einen eigenen Weg. Mit jedem Album nach »Mars Audiac Quintet« klangen die Instrumente präziser, die Rhythmen koordinierter, der Sound minimalistischer, wurde Noise zu Free Jazz. Wo 1993 ein Song der Band wohl noch entglitten wäre und es ordentlich gerumpelt hätte, war 1999 auf der »Cobra and Phases Group Play Voltage in the Milky Night« alles in festen Händen. Das muss einem musikalisch nicht gefallen, zeigt aber die konsequente Verfolgung des Prinzips an, das Vergangene immer wieder mit dem Gegenwärtigen kollidieren zu lassen, mit den Mitteln (und ­Instrumenten) von heute die Musik einer anderen Zeit aufzugreifen. Dass ein solches Unterfangen in einer Zeit, in der Pop keine Geschichte, sondern nur noch Gegenwart kennt, nicht mehr sehr profitabel ist, davon scheint der Umstand zu zeugen, dass die letzte offizielle Platte der Band 2009 erschien.

Stereolab: Transient Random-Noise Bursts with Announcements/Mars Audiac ­Quintet (Warp Records)