Ungarische Oppositionelle organisieren sich in Berlin

Exil in Berlin

Ungarische Oppositionelle organisieren sich in der deutschen Hauptstadt, um gegen die rechte Dominanz in ihrem Herkunftsland vorzugehen.

»Derzeit ist eine Rückkehr für mich unvorstellbar«, sagt Kriszta, 33 Jahre alt, aus Ungarn. Als sie vor elf Jahren nach Berlin kam, hatte das zwar keine politischen Gründe, doch inzwischen sorgt sie sich, wie viele andere, um die politische Situation in ihrem Geburtsland. Dort setzt die autoritäre rechte Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán seit Jahren alles daran, es Andersdenkenden so schwer wie möglich zu machen. Wer sich für Meinungsfreiheit, Demokratieförderung und Menschenrechte engagiert, muss mit Repressalien rechnen.

Bei der jüngsten Umfrage zu den anstehenden Wahlen zum EU-Parlament, die Anfang Mai veröffentlicht wurde, lässt Orbáns Partei Fidesz mit 57 Prozent der Stimmen sämtliche anderen Parteien weit hinter sich. Die rechtsextreme Partei Jobbik liegt mit elf Prozent auf dem zweiten Platz, dicht gefolgt von der sozialdemokratischen MSZP mit etwa zehn Prozent. Diese Zahlen stimmen nicht allzu optimistisch, dass sich an der Lage in Ungarn in naher Zukunft etwas ändern wird.

Viele Ungarn in Deutschland würden sich deutlichere Zeichen deutscher Politiker in Richtung der Fidesz-Regierung wünschen.

In Deutschland sorgte zuletzt im Sommer 2018 der Umzug der Open Society Foundations (OSF), eine Gruppe von Stiftungen des Milliardärs George Soros, für Aufmerksamkeit, die nach öffentlichen Diffamierungskampagnen und der Androhung einer »Strafsteuer« von Budapest nach Berlin zog. Auch andere Organisationen und Personen leiden unter der schleichenden Einschränkung ihrer Freiheiten.

Auch in Berlin sammeln sich Exil­ungarn. Noch stellen ungarische Staatsbürger dort mit knapp 6 000 Personen eine relativ kleine Gruppe, aber diese Zahl dürfte weiter steigen.

Unter den 6 000 befinden sich etwa 30 Aktivistinnen und Aktivisten, die sich vor zwei Jahren zur Freien Ungarischen Botschaft (FUB) zusammengeschlossen haben. Die Mitglieder verbindet die Hoffnung, dass Orbáns autokratische Regierung ein kurzes Kapitel in der ungarischen Geschichte bleibt. Um darauf hinzuarbeiten, vernetzen sie sich unter anderem mit vergleichbaren Gruppen aus Polen und Rumänien, die einer ähnlichen Entwicklung wie in Ungarn entgegenblicken.

Die FUB versteht sich als Sprachrohr der ungarischen demokratischen Opposition in Deutschland und informiert über die ungarischen Zustände. Neben dem Knüpfen von Netzwerken organisiert die FUB Fundraising-Aktionen für ungarische Nichtregierungsorganisationen und trägt ihren Protest vor die ungarische Botschaft. Die Mitglieder arbeiten als Sozialarbeiterinnen, Journalisten, Akademikerinnen, Handwerker oder, wie Mitgründerin Kriszta, im künstlerischen Bereich.

Péter hofft, eines Tages seine Theaterstücke in Ungarn aufgeführt zu ­sehen. Auch er ist in der FUB aktiv. Für den 40jährigen ist klar, dass man in der derzeitigen politischen Lage Position beziehen müsse – auch wenn, oder gerade weil, die Politisierung junger Menschen im ungarischen Schulsystem kaum gefördert werde. Die Mitglieder der FUB eint die Überzeugung, dass in Ungarn viel Potential besteht. »Die kreative und aktivistische Szene ist zwar überschaubar, aber sehr stark und eng vernetzt«, sagt Péter der Jungle World. Das herrschende System kranke an Korruption, fehlendem kritischen Denken und natürlich an Fidesz. »Die Leute werden hinuntergedrückt statt hochge­hoben«, sagt Kriszta im Gespräch mit der Jungle World.

Doch Orbán allein die Schuld zu geben, sei falsch, da sind sich beide einig. Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit waren in Ungarn möglicherweise noch nie seit 1989 solchen Angriffen ausgesetzt wie jetzt. »Orbán hat jedoch ein System perfektioniert, das schon vorher korrupt war. Würde Fidesz verschwinden, gäbe es keine Garantie, dass sich daran etwas ändern würde«, so Péter. Die ­Arbeit der FUB stößt daher nicht nur auf Beifall: »Ihr habt kein Recht, von Berlin aus etwas über Ungarn zu sagen«, das hören die Mitglieder oft aus Ungarn. Trotzdem ist es der FUB wichtig zu zeigen, dass Ungarn mehr ist als Fidesz und Orbán.

Nach Angaben des EU-Statistikamts Eurostat arbeiteten 2017 von den Ungarn im Alter von 20 bis 64 Jahren 5,2 Prozent im EU-Ausland, der Wert liegt deutlich über dem EU-Durchschnitt von 3,8 Prozent. Bereits 2014 berichtete die regierungskritische deutschsprachige ungarische Internetzeitung Pester Lloyd, dass zwischen Mitte 2010, als Orbán nach seiner ersten Amtszeit von 1998 bis 2002 zum zweiten Mal Ministerpräsident, und Anfang 2013 etwa 350 000 Menschen das Land verließen – netto, also abzüglich aus dem Ausland zurückgekehrter Ungarn, bei einer Bevölkerung von rund zehn Millionen. Anders als etwa im Nachbarland Rumänien seien es nicht in erster Linie die Armen, sondern die Jungen und Qualifizierten gewesen, die auswanderten. Die meisten von ihnen seien nach Deutschland, Österreich und Großbritannien gegangen.

Als britische Boulevardmedien im Zuge der Debatte über das EU-Austrittsreferendum auch Verbrechen ungarischer Einwanderer thematisierten, war Ungarns Außenminister Péter Szijjártó empört. In einem Interview mit dem Nachrichtenportal Euronews sagte er, ungarische Bürger, die im Rahmen der Freizügigkeit innerhalb der EU in einem anderen Land lebten, seien »keine Migranten«. Ungarn, die in einem anderen Land Straftaten begingen, mit »illegalen Migranten« in einen Topf zu werfen, die nach Darstellung der Fidesz-Regierung zu Hunderttausenden Ungarn unsicher machten, sei unfair und beleidigend.

Bisher scheint es Gruppen wie die FUB außerhalb Ungarns kaum zu geben. Von den anstehenden Wahlen zum EU-Parlament erhofft die FUB sich mehr Aufmerksamkeit für die Verhältnisse in Ungarn – nicht zuletzt, um die aus ihrer Sicht dürftigen Reaktionen deutscher Politiker anzuprangern. Die Missachtung europäischer Grundwerte in Ungarn werde in Deutschland nämlich mehr oder weniger achselzuckend hingenommen.

Für Kriszta und Péter bedeutet das eine Gefahr für die gesamte EU. Die »ungarische Rezeptur würde überall funktionieren«, fürchtet Kriszta. Selbst die Plakatkampagne im Februar, die sich nicht mehr »nur« gegen OSF-Gründer Soros, sondern auch gegen den EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker richtete (Jungle World 11/2019), veranlasste den Spitzenkandidaten der Europäischen Volkspartei (EVP), den CSU-Politiker, Manfred Weber zunächst lediglich dazu, den Ausschluss von Fidesz aus der EVP als »Option« zu bezeichnen. Die mit großer Mehrheit in der EVP beschlossene vorläufige Suspendierung von Fidesz wird von vielen als bloße Wahlkampftaktik gesehen. Viele Ungarn in Deutschland würden sich deutlichere Zeichen deutscher Politiker in Richtung der Fidesz-Regierung wünschen.

Klare Signale kommen dagegen von dieser: Anfang Mai erklärte Orbán, Manfred Weber nicht länger als Kandidaten die Präsidentschaft der Europäischen Kommission zu unterstützen. Damit hat die EVP ihrerseits die Chance vertan, sich deutlich zu positionieren, und stattdessen ein weiteres Mal für Orbán eine große Bühne bereitet.