Bei den britischen Europawahlen wurde die »Brexit-Partei« stärkste Kraft

May geht, die Blockade bleibt

Bei den Wahlen zum EU-Parlament in Großbritannien haben proeuropäische Parteien zusammen mehr Stimmen erhalten als Ukip und die »Brexit-Partei«, auch wenn letztere stärkste Kraft wurde. Premier­ministerin Theresa May hat ihren Rücktritt angekündigt.

Am Ende zeigte sie dann doch Emotionen, auch wenn es vielleicht vor allem Selbstmitleid war. Die britische Premierministerin Theresa May, in der Öffentlichkeit des Landes als »Maybot«, als gefühlsloser Roboter, verschrien, kamen bei den letzten Worten ihrer Rücktrittsrede am Freitag voriger Woche die Tränen. Seit Wochen war spekuliert worden, an jenem Tag nun kündigte May offi­ziell für den 7. Juni ihren Rücktritt an.

Zuvor hatte sie es erneut versucht: Drei Tage vor den britischen Europawahlen am Donnerstag vergangener Wo­che und zwei Monate nach dem ursprünglich vereinbarten »Brexit«-Termin stellte Premierministerin Theresa May ihren angeblich »neuen und verbesserten« Austrittsplan vor. Es war klar, dass auch diese Version keine Zustimmung des Parlaments erhalten würde.

Wochenlange Gespräche mit der oppositionellen Labour-Partei hatten keine Einigung gebracht. In ihrer eigenen Konservativen Partei verlor May noch weiter an Rückhalt, nicht zuletzt, weil sie auf Labour zugegangen war und eine Zollunion mit der EU, eine zentrale Forderung der Labour-Partei, zumindest temporär ermöglichen wollte. Auch ein neues Referendum hatte May noch ins Spiel gebracht.

Labour hatte versucht, sich im Wahlkampf jenseits der Frage über den EU-Verbleib zu positionieren, verlor jedoch Stimmen vor allem an Parteien, die sich klar gegen den EU-Austritt stellten.

May hatte das Vereinigte Königreich seit dem Rücktritt David Camerons infolge des von ihm angestrengten Referendums über den EU-Austritt 2016 geführt. Sie war zuvor lange Jahre Innenministerin und berüchtigt für ihren harten Kurs in der Immigrationspolitik. Auch als Premierministerin blieb sie ihrer nationalistischen Grundhaltung treu und machte das Ende der Arbeitnehmerfreizügkeit zur unverhandelbaren Bedingung, zur »roten ­Linie« in den Austrittsverhandlungen mit der EU. In einer Parteitagsrede 2016 bezeichnete sie Menschen, die sich als »Weltbürger« verstehen, als »Bürger von nirgendwo«. Gleichzeitig forderte sie für Briten mehr Gerechtigkeit und propagierte eine Politik des sozialen Ausgleichs. Ihre Regierung beendete die ­extrem harte Sparpolitik ihres Vorgängers, allerdings hatte dies kaum Auswirkungen auf die Armut im Land, die weiter wächst, was zuletzt sogar der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für ­Armut, Philip Alston, angeprangert hat.

Im Kern ging es in den knapp drei Jahren von Mays Regierung ohnehin nur um den EU-Austritt. Zu Beginn steuerte May auf einen harten Bruch mit der EU zu, forderte den Austritt Großbritanniens nicht nur aus der politischen Union, sondern auch aus dem Binnenmarkt und der damit verbundenen Zollunion. Dieses Vorgehen war in ihrer Partei populär, aber nicht in der Gesamtbevölkerung. Im Referendum hatten 48 Prozent für einen Verbleib in der EU gestimmt, in Schottland und Nordirland sogar die Mehrheit. Die Skepsis vieler Britinnen und Briten gegenüber Mays Kurs zeigte sich spätestens im Juni 2017. May hatte Neuwahlen ausgerufen, um ein starkes Mandat zu bekommen, die Tories verloren aber ihre Mehrheit. Statt nun offen über die Notwenigkeit von Kompromissen zu reden, beharrte May auf rigiden Positionen, die sich in den Gesprächen mit der EU als unhaltbar erwiesen. Immer mehr »Brexit«-Hardlinern in ihrer Partei galt May als Verräterin. Als sie den Austrittsplan schließlich präsentierte, verwehrten diese Parteifreunde May die Gefolgschaft.

Bei den Europawahlen, an denen Großbritannien nun doch teilgenommen hat, wurden die Konservativen abgestraft. Mit rund neun Prozent der Stimmen kamen sie auf das schlechteste Ergebnis in ihrer fast 200jährigen Geschichte. Die Frage ist nun, welcher Kandidat und welche Austrittspolitik den Konservativen aus dem Tief helfen kann. »Kompromiss ist kein dreckiges Wort«, hatte May in ihrer Rücktrittsrede angemahnt. Doch das scheint nicht die Richtung zu sein, in die ihre Partei gehen will. Boris Johnson, ehemaliger Außenminister und prominentester EU-Skeptiker der Tories, gilt derzeit als Favorit für Mays Nachfolge. Sein britischer Gutsherrenhabitus und sogar seine eher peinliche Churchill-Nachahmung kommen bei den circa 100 000 verbleibenden Parteimitgliedern, deren Altersdurchschnitt vorsichtigen Schätzungen zufolge bei 57 Jahren liegt, gut an. Bevor die Mitglieder abstimmen dürfen, treffen die Tory-Abgeordneten eine Vorauswahl von zwei Kandidaten. Und auch wenn Johnson unter den Parlamentsmitgliedern der Partei weit weniger populär ist, könnte er in die Endrunde zu kommen. Dies liegt vor allem daran, dass er als der einzige Kandidat gilt, der eine Chance hätte, die Tories gegenüber Nigel Farage zu stärken.

Dessen erst im Januar gegründete »Brexit Party« wurde bei den Europawahlen mit 31,6 Prozent der Stimmen stärkste Kraft. Bereits bei der vorherigen Europawahl hatte Farage die rechtspopulistische United Kingdom Independence Party (Ukip) zum Sieg bei den Europawahlen geführt. Vier Jahre und ein EU-Referendum später fordert ­Farage nicht mehr nur den Austritt aus der EU – jetzt soll es der »no-deal« sein, ein Austritt ohne Abkommen mit der EU. Nicht nur die meisten Ökonomen und Unternehmer, sondern auch moderate Konservative werten ein solches Vorgehen als ökonomische und politische Katastrophe.

Die Konservativen, aber auch Labour, hatten vor den Wahlen noch versucht, die undurchsichtigen Finanzen der Brexit Party anzugreifen. Der ehemalige Labour-Premierminister Gordon Brown kritisierte, dass die meisten Spender der Partei unbekannt seien. Diese nutzt eine Klausel in der Gesetzgebung, nach der Partei­spenden unter 500 Pfund nicht erklärt werden müssen. Durch wiederholte anonyme elektronische Überweisungen über den Online-­Bezahldienstes Paypal könnten damit theoretisch einzelne Spender unerkannt hohe Geldbeträge überweisen. Farages eigene Finanzen werden derzeit auch in einem Ausschuss des EU-Parlaments untersucht, nachdem herausgekommen ist, dass sein langjähriger Mitstreiter für einen EU-Austritt, der Millionär Arron Banks, ihm rund 450 000 Pfund (rund 510 000 Euro) geschenkt hatte. Banks hatte große Teile von »Leave EU« finanziert, der Referendumskampagne für den EU-Austritt. Deren Verantwortlichen sind bereits Verstöße gegen Kampagnenfinanzierungsgesetze nachgewiesen worden.

Doch es ist mehr als fraglich, ob die Konzentration auf die problematische Spendenpraxis von Farage und Banks politisch erfolgreich sein wird. Selbst wenn Verstöße nachgewiesen werden, dürfte das die Unterstützer eines harten Austritts nicht wirklich interessieren, wie auch das Wahlergebnis der Brexit Party zeigte. Viele derjenigen, die in der vergangenen Woche für ­Farage stimmten, beklagen sich, dass die langen Verhandlungen mit der EU lediglich ein Versuch seien, den EU-Austritt zu verhindern. »Wir haben für den ›Brexit‹ gestimmt, nun wollen wir ihn auch bekommen«, beschwerte sich etwa einer der rund 3 000 Besucher der Wahlkampfabschlussveranstaltung der Brexit Party in London im Gespräch mit der Jungle World.

Die Haltung zum Austritt ohne Abkommen ist bereits zur entscheidenden Frage unter den Kandidaten für die Nachfolge Mays geworden. Neuwahlen gelten als wahrscheinlich, insbesondere wenn Johnson Parteivorsitzender werden sollte, denn einige moderate Tory-Abgeordnete könnten ihm die Gefolgschaft verweigern, wenn er, wie er angedeutet hat, einen Austritt ohne Abkommen in Kauf nehmen würde.

Die Labour-Partei fordert seit langem Neuwahlen. Allerdings waren die Europawahlen auch für Labour alles andere als ein Erfolg. Die Partei hatte versucht, sich im Wahlkampf jenseits der Frage über den EU-Verbleib zu positionieren. Sie verlor fast die Hälfte ihrer Stimmen, vor allem an Parteien, die sich klar gegen den EU-Austritt stellten, und erreichte nur etwas mehr als 14 Prozent. Im Blick auf mögliche Neuwahlen versuchen nun linke proeuropäische Strömungen innerhalb von Labour, wie »Love Socialism – Hate Brexit«, die Partei in Richtung EU-Verbleib zu drängen. Die Liberaldemokraten konnten mit dem Wahlslogan »Bollocks to Brexit« (in etwa: »Scheiß auf den Brexit«) rund 20 Prozent der Stimmen erreichen und wurden zweitstärkste Kraft. Auch die Grünen erzielten ein starkes Ergebnis und liegen mit zwölf Prozent noch vor den Konservativen. Mit den schottischen und Waliser Nationalisten und der neuen Partei »Change UK« haben die EU-freundlichen Parteien gemeinsam deutlich mehr Stimmen erreicht als die Brexit Party und Ukip. Deren »No-deal Brexit« hat keine Mehrheit im Land. Mit dem Ergebnis der Wahlen ist ein baldiger Austritt Großbritanniens aus der EU unwahrscheinlicher geworden.