Nicolas Mahlers Comic »Das Ritual«

Meister der Gummikostüme

Lang lebe Godzilla! Der Zeichner Nicolas Mahler feiert in seinem Comic »Das Ritual« den japanischen Monsterfilm.

»Nur Männer im Gummikostüm vermitteln ein bestimmtes Gefühl.« Da ist sich der Monsterfilmtricktechniker ganz sicher. Das Publikum liebt Godzilla und andere Monster nur dann, wenn sie von echten Menschen in Latexhüllen gespielt werden. Nur so werde das Publikum vom erhabenen Grusel erfasst, unbeherrschbaren Naturgewalten ausgesetzt zu sein.

In Nicolas Mahlers wunderbarem Comic »Das Ritual« berichtet ein Tricktechniker von seiner Arbeit. Der Meister analoger Spezialeffekte erinnert sich bei einer Schale Tee an sein Leben. Seine Biographie ähnelt der der des berühmten Trickfilmmeisters Eiji Tsuburaya (1901–1970), der seine ganze Kunstfertigkeit in die »Godzilla«-Filme steckte und damit ein ganzes Genre prägte.

Nach seiner Interpretation von »Alice im Wunderland« und zu Thomas Bernhard nimmt sich der österreichische Zeichner Nicolas Mahler nun eines Themas an, das auf den ersten Blick eher trashig anmutet. In seinem Comic schlurft man mit dem Meister durch Arrangements aus Gummi und Pappmaché, Bühnen­bilder aus Miniaturstädten und gebastelten Arenen für die Naturgewalten.

Während der in die Jahre gekommener Spezialist für Spezialeffekte durch sein Reich führt, entschlüpfen seinem Mund nur wenige erklärende Worte. »Was wir machten, war ehrliches Handwerk.« Die Bastelei folgte den klassischen Regeln des Hobbykellers. Er komme schließlich aus dem Modellbau. »So was wird heute mit dem Computer gemacht.« Prägnant fasst er auch zusammen, worum es in allen Filmen des Genres namens kaijū im Kern geht: »Im Prinzip ­haben wir immer dieselbe Geschichte erzählt. Mit kleinen Variationen. Ein Riesenmonster zerstört Städte und belästigt Menschen. Das Militär kämpft, hat aber keine Chance.«

Das japanische »kaijū« lässt sich als »seltsame Bestie« übersetzen, weshalb das Filmgenre kaijū eiga, »Monsterfilm«, genannt wird. Das Genre beherbergt ein ganzes Bestiarium, etwa die Titanenschildkröte ­Gamera, den DrachenYamata no Orochi und die Monstermotte Mothra. Die bekannteste Figur ist Godzilla, der 1954 seinen ersten Auftritt hat. Der Film gilt auch als Beginn des Kaijū-Kinos. Für »Godzilla« stand der US-Film »King Kong« Pate. Produzent Tomoyuki Tanaka stieß bei der Suche nach einem profitablen Filmstoff auf den Riesenaffen. Er kombinierte die Idee einer übermenschlichen Kreatur mit der damals gerade wiedererwachten Angst der Japaner vor der Atomkraft. Die nuklearen Zerstörungen von Hiroshima und Nagasaki waren in Japan noch nicht vergessen, als im Frühjahr 1954 der Fischkutter »Glücklicher Drache« nach ­einem US-Atomwaffentest radioaktiv kontaminiert wurde. Einige Besatzungsmitglieder starben an den Folgen. Produzent Tanaka wollte diese Angst aufgreifen, sie aber durch die phantastischen Viecher zum wohligen Thrill im Kinosessel abmildern. Also erschuf er Godzilla: Eine Kreatur, die nach radioaktiver Verseuchung den Meerestiefen entsteigt und die menschliche Zivilisation als Feind begreift. Optisch orientiert sich die Godzillafigur an der Urzeit. Der Männchen machende Dinosaurier sieht mit seinen kurzen Armen aus wie ein Tyrannosaurus rex, der Kopf ist niedlich wie der des Brontosaurus. Als visuelle Vorlagen dienten die wissenschaftlichen Darstellungen der prähistorischen Naturzeichner Rudolph Zallinger and Zdeněk Burian. Doch wie animiert man solche Monster für den Film?

Hier setzt die Erzählung der teetrinkenden Meisters im Comic an. Die Namen Eiji Tsuburaya und Godzilla nennt der Comic nicht, vermutlich aus urheberrechtlichen Gründen. »Japanische Rechtsanwälte sind ­erbarmungslos«, lässt Mahler seinen Meister an einer Stelle sagen. Wie nun aber werden die Giganten in Bewegung versetzt? »King Kong« arbeitete wesentlich mit der Stop-Motion-Technik. Hierfür werden Puppen in Einzelbildern aufgenommen, in nur leicht veränderter Haltung. Aneinandergereiht ergibt sich so eine Bewegungsfolge. Auch der 1955 entstandene tschechoslowakische Film »Reise in die Urzeit« – er orientierte sich an den Zeichnungen von Burian – arbeitete mit Stop-Motion. Das aber ist ­extrem zeitaufwendig und teuer. Deshalb wurde Godzilla mit Darstellern animiert, und Eiji Tsuburaya übersetzte den von Regisseur und Produzent gewünschte Schrecken in Leinwandbilder. Schauspieler in Ganzkörperlatexanzüge bewegten sich durch maßstabsgetreue Kulissen.

Diese Tricktechnik wird auch »Suitmation«  genannt, das englische ­Kofferwort aus »Anzug« (suit) und Animation. Die Idee war einfach und doch revolutionär, für die Darsteller aber vor allem beschwerlich. Das erste Kostüm, das angefertigt wurde, erwies sich als zu unbeweglich und zu schwer. Das zweite wog ­immerhin noch mehr als 100 Kilogramm. Für die Darsteller war es eine Qual, sie schwitzten in den luftundurchlässigen Anzügen, die durch die Hitze der Scheinwerfer zu glühen begannen. Kerosingetränkte Lappen, die an der Gummihaut befestigt ­waren, sorgten für ordentlich Feuer und Qualm, wenn dem Monster laut Drehbuch von den Angreifern eine Wunde beigebracht worden war.

Die Männer in den Kostümen sehen in Mahlers Cartoons denn auch nicht wirklich glücklich aus. Mit verknautschen Gesichtern stehen sie missmutig in der Gegend herum, während der Spezialist seine Arbeit erläutert. Sie werden wie Statisten herumgeschoben. Hauptsache, der Effekt stimmt. Wie die Muster der Tricktechnik ist das Schauen der Kaijū-Filme fürs Publikum eine Art Ritual. Es lebt von der Wiederholung, von der stets erneuerten heimlichen Ab­sprache zwischen Machern und Zuschauern, an die Monster zu glauben. Nach »Godzilla« war Tsuburaya für die Spezialeffekte in über 50 weiteren Filmen zuständig. Seine Männer in Gummianzügen prägten nicht nur den Monsterfilm in Fernost, sondern beeinflussten auch westliche Produktionen. Bestes Beispiel dafür sind die »Power Rangers«, bei denen die Killerkreaturen ähnlich tolpatschig unterwegs sind wie in »Godzilla«. Denn trotz aller raffinierter Tricktechnik wirken die Filmdarstellungen nicht nur für heutige Zuschauer holprig, komisch und kitschig – ja: ­comichaft.

Dennoch begeistern die Filme gerade wegen ihrer unvollkommenen Ästhetisierung der Natur. Erhaben ist, so formulierte es der Philosoph ­Edmund Burke, was »fürchterliche Freude« bereitet. Ein »Frohsein« ­mische sich in den Horror, sobald der Betrachter realisiere, dass er selbst nicht unmittelbar gefährdet sei. Das »Schreckhafterhabene« nannte Immanuel Kant diese Eigenschaft, die sich auch in den Kaijū-Filme finden lässt. Auf das Äußerste wird die sinnliche Erfahrungen ­gesteigert, wird durch machtvolle Phänomene überfordert. Bei Kant reichten dafür noch tobende Meereswellen, tiefe Schluchten oder Wasserfälle aus. Die wilde Natur inszenierte man schon damals, spezielle Perspektiven wurden mit Aussichtstürmen oder Schneisen ermöglicht. Godzillas Unbesiegbarkeit simulieren Gummianzüge, denen Spielzeugkampfflieger nicht beikommen. Nicolas Mahlers wunderbarer Comic »Das Ritual« kratzt an der Erhabenheit der Tricktechnik und setzt ihr zugleich ein Denkmal.

Nicolas Mahler: Das Ritual. Reprodukt, Berlin 2019, 64 Seiten, 14 Euro.