Die neuen Nudisten

Blanker Hedonismus

Nackt-Volleyball, Sexpartys und FKK-WGs: In Berlin und anderen Großstädten ist eine junge, hedonistische Nacktkultur entstanden.

Niklas* betritt die Umkleidekabine der Gustav-Meyer-Schule in Berlin. Er stellt seinen Rucksack ab und beginnt, sich auszuziehen. Neben ihm steht Lina, nackt, und räumt ihre Tasche in den Spind. Die Spindtür lässt sie offen. ­Niklas schaut auf seine Uhr. »Wir sind zu spät.« Die beiden gehen duschen, nebeneinander, dann ins Schwimmbecken, nacheinander. Die meisten Kursteilnehmer sind schon im Wasser. Ein anderer Zuspätkommer springt ins Becken, dabei schlenkert sein Penis kurz und verharrt einen Moment lang in der Waagerechten. Dann beginnt die Wassergymnastik. »Und jetzt lauft ihr alle im Kreis, so schnell ihr könnt«, ruft Trainerin Susanne. Frauenbrüste tauchen aus dem Wasser auf und wieder ab. Keiner schenkt ihnen viel Beachtung.

Die Freikörperkultur litt lange an dem Ruf, verstaubt und unspaßig zu sein: Man dachte an weißhaarige nackte Dauercamper.

Niklas und Lina, beide Anfang 30, sind Mitglieder im Familiensportverein Adolf Koch, einem von fünf Vereinen für Freikörperkultur (FKK) in Berlin. Bis vor wenigen Jahren schien es, als würde die Freikörperkultur zusammen mit ­ihren alternden Verfechtern in den FKK-Vereinen aussterben. Die Vereine ver­loren immer mehr Mitglieder. Die Freikörperkultur litt lange an dem Ruf, verstaubt und unspaßig zu sein: Man dachte an weißhaarige nackte Dauercamper zwischen Gartenzwergen und Plastikstühlen und an DDR-Folklore am Ostseestrand.

Außerdem scheint das Nacktsein an öffentlichen Orten immer verpönter zu sein – und das obwohl sexuelle Phantasien bedienende, fast nackte Frauen regelmäßig in der Werbung für Produkte auftauchen, die nichts mit Frauenkörpern zu tun haben. Dass beispielsweise die Betreiber des Berliner Vabali-Spa Nacktheit außerhalb der Saunen und Schwimmbecken auf Drängen einiger Gäste hin verboten haben, passt ins Bild. Zumindest im Osten Deutschlands – wo früher FKK zume Alltag ­gehörte, – ist der Rückgang öffentlicher Nacktheit belegt: Nach Angaben einer Studie des Merseburger Instituts für Sexualwissenschaft hatten 1990 noch 55 Prozent der ostdeutschen Jugendlichen FKK-Erfahrungen, 2013 waren es nur noch 17 Prozent. Der in Merseburg forschende Sexualwissenschaftler Kurt Starke, äußert Verständnis dafür, dass junge Menschen zögerten, sich öffentlich nackt zu zeigen. Es liege an der »sexualisierten Nacktheit in der Werbung«, die omnipräsent sei.

Doch seit ungefähr zwei Jahren beobachten Nudistinnen und Nudisten Anzeichen einer Trendumkehr. Gegen den immer restriktiver werdenden Umgang mit Nacktheit wenden sich vor allem Menschen in Großstädten. »Der Mainstream wird gefühlt immer rückwärtsgewandter, andere Gruppen immer progressiver. Vielleicht ist das eine Art Gegenreaktion«, sagt Niklas. Nach dem Motto: Wenn das Pendel weit in die eine Richtung schwingt, wird es irgendwann automatisch wieder in die andere ausschlagen.

Für Niklas bedeutet Nacktsein »Freiheit«. Naturverbunden sei er schon immer gewesen. Aber wenn er nackt im See schwimmt, dann fühlt er sich der Natur noch näher, weil da keine Barriere ist, die seine Haut von Sonne und Wasser trennt. Er sagt: »Wenn ich nackt bin, dann fühle ich mich, als würde ich meine Rolle aus dem Alltag ab­legen. Dann bin ich entspannt und nah bei mir selbst.«

Nudisten wie Niklas schwimmen und paddeln nackt, sie wandern oder spielen nackt Badminton in Vereinen, deren Mitgliederzahlen in ganz Deutschland wieder leicht steigen. Sie bezeichnen sich als naturverbunden, ganz im Sinne der ersten Naturisten. Manche FKKler wohnen sogar nackt. Wer auf Portalen wie wg-gesucht.de nach Wohngemeinschaften sucht, der weiß: In den größeren Städten suchen und finden FKK-WGs neue, nudistische Mitbewohner. In Berlin wächst außerdem eine Szene, deren Mitglieder gerne nackt feiern und dann auch Sex haben – ob bei der Schlager-Nackt-Party im Schwulenclub Schwuz, bei Sexpartys oder bei privaten Afterhours. Den einen geht es beim kollektives Nacktsein explizit um Sex, die anderen, traditionellen Nudisten streiten FKK jede sexuelle Komponente ab.

Trotzdem kommen nur die FKK-Vereine auf einen grünen Zweig, die mit der Zeit gehen und sich aktuellen Trends anpassen.«Die FKK-Vereine sind größtenteils dazu übergegangen, Werbung für ihre Gelände und ihr Freizeitvergnügen zu machen«, sagt Michaela Toepper, Vizepräsidentin des Deutschen Verbands für Freikörperkultur. Manche verzichten weiterhin darauf und gehen ein.

Dem Berliner Familiensportverein Adolf Koch ist eine solche Modernisierung gelungen. Seit 2017 sind 72 Männer und Frauen, die meisten zwischen 20 und 40 Jahre alt, eingetreten. Den Zuwachs hat der Verein nicht zuletzt Niklas und seinem Freund Fabian zu verdanken. Vor gut zwei Jahren traten die beiden mit einer Gruppe von etwa zehn Freunden ein und krempelten den Verein mithilfe von neuen und alten Mitgliedern um. Jetzt präsentiert er sich mit einer neuen Website und taucht in Nachbarschaftsnetzwerken wie »Meetup« auf. Außerdem hat sich der Verein den Bedürfnissen urbaner Menschen angepasst: Sie können nun nackt Yoga praktizieren oder ein Fitnesstraining machen, Volleyball oder Fußball spielen.

Niklas hat mit Volleyball angefangen. »Das war erstmal alles ziemlich ungewohnt und ich habe drauf geachtet, mich so hinzustellen, dass man möglichst wenig sieht«, sagt er. »Aber dann habe ich gemerkt, dass das Nacktsein gar nicht zentral ist.«

Mittlerweile lebt Niklas in einer FKK-WG, zusammen mit Fabian und zwei anderen Mitbewohnern. Manchmal gucken sie gemeinsam »Tatort« und sitzen dabei nackt auf der Couch. Oder sie laden Freunde zum Spieleabend ein. Am Wochenende frühstücken sie zusammen mit Handtüchern unter den nackten Hintern und in der Weihnachtszeit flambiert Mitbewohner Tim gerne nackt Crêpes. Gerade sitzen sie zu dritt am Küchentisch und sind alle angezogen. Niklas ist es zu kalt in der Wohnung zum Nacktsein, Fabian ist erkältet und Mitbewohner Jon ist gerade nach Hause gekommen und muss gleich wieder los.

»Wir sind nicht hier nicht auf Teufel komm raus nackt«, sagt Fabian. »Potentielle Mitbewohner müssen nicht unbedingt mitmachen und Besucher müssen sich auch nicht ausziehen, wenn sie nicht wollen.« Wenn aber zum Beispiel die Eltern eines Bewohners zu Besuch kommen, dann ziehen sich alle was an. Hingegen ist Fabian manchmal nackt, wenn er bei seinen Eltern zu Besuch ist. Dann nämlich, wenn sie schon ins Bett gegangen sind und er noch wach ist. »Die restliche Zeit empfinde ich es als Einschränkung, nicht nackt sein zu können«, sagt er.
Das ungezwungene Nacktsein hat auch praktische Vorteile in der WG: Morgens können sich mehrere Bewohner gleichzeitig im einzigen Bad fertig machen, und wenn einer die Unter­hose im Zimmer vergessen hat, geht er nach dem Duschen eben nackt über den Flur. Mit Sex hat ihr WG-Leben so viel oder so wenig zu tun wie der Alltag in anderen WGs.

Viele FKK-WGs gehen so mit Nacktheit um: Für die klassischen FKKler ist Nacktheit ein Selbstzweck, der zufrieden macht. Deswegen hat FKK für sie auch nichts mit Sex zu tun.

Doch so sehen es nicht alle Nudisten. In der Anzeige einer Münsteraner FKK-WG auf der Website wg-gesucht.de steht: »Wenn du es dir auf der Couch gemütlich machen willst und Solo-Fun haben willst, kann es allerdings schon mal passieren, dass du Gesellschaft bekommst.« Bei manchen ist die nackte Haut im Alltag sogar ein Motor für ihr Sexleben. Zum Beispiel bei Annika und Herman, die als Paar zusammen wohnen. In ihrer Wohnung kochen sie nackt, sehen nackt fern und arbeiten nackt. »Ich würde sagen, dass wir wegen unserer Nacktheit zu Hause mehr Sex haben«, sagt Annika.

Für Annika hat das tägliche Nacktsein noch einen anderen Effekt: Sie fühlt sich in ihrem Körper wohler und ist dadurch selbstbewusster. Auch, weil an ihrer Stammbadestelle am Berliner Halensee fast keiner den gängigen Schönheitsidealen entspricht. »Früher hatte ich noch mehr Probleme ­damit, wenn andere Menschen mich nackt gesehen haben«, sagt Annika. »Jetzt liebe ich es, nackt am See zu liegen, so unperfekt wie ich bin.«
Trotzdem gehört Annika in der FKK-Szene als Frau zur Minderheit. Auch bei der FKK-Wassergymnastik sind von 15 Teilnehmern nur drei Frauen. Der ­Sexualwissenschaftler Starke sagt, besonders Frauen hätten Sorge, den unrealistischen Schönheitsidealen aus der Werbung nicht zu genügen. Doch Starke sagt auch: »Regelmäßiges, un­gezwungenes Nacktsein, zum Beispiel am Strand, hilft dabei, sich dem Druck zu entziehen und das eigene Selbst­bewusstsein zu stärken.« Die meisten würden dann merken, dass die Schönheitsideale nicht die Realität wiederspiegeln.
Lina von der Wassergymnastikgruppe kann das bestätigen. Sie sagt: »Ich bin auf einem guten Weg, mit meinem Körper ins Reine zu kommen.« Nach dem Training steht sie mit Niklas am Beckenrand und redet über die Yogastunde am vorigen Donnerstag. Die drei gehen in den Duschbereich. Während dort alle Duschen laufen, reicht eine Frau einem Mann gerade ihr Seidenglanz-Shampoo.

* Namen von der Redaktion geändert