Die Grünen nach der Europawahl

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Die Grünen sind im Höhenflug. Für alle, die sich eine linke Politik wünschen, ist das eine schlechte Nachricht.

Um das Ergebnis der Europawahl besser einschätzen zu können, lohnt sich ein Blick zurück: Am 19. Januar hielt der AfD-Bundesvorsitzende Alexander Gauland eine strategische Rede bei der Winterakademie des neurechten Instituts für Staatspolitik. Götz Kubitschek, einer der Gründer des Instituts und Chefredakteur der Zeitschrift Sezession, übernahm die Einführung. Im Publikum saßen Björn Höcke, der Landesvorsitzende der AfD in Thüringen, und Andreas Kalbitz, der brandenburgische AfD-Landesvorsitzende. Die neuen rechtsextremen Größen waren versammelt.

Die »Inhalte« der Grünen sind nicht mit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive verknüpft. Wären sie es, müsste die Partei ihrer Wähler­schaft erhebliche Einschränkungen aufbürden.

Im Zentrum von Gaulands Vortrag stand die Konfrontation von »Somewheres« und »Anywheres«. Mit »Somewheres« waren abgehängte, wenig ­mobile Provinzler gemeint; mit »Anywheres« kosmopolitische, liberale ­sowie beruflich und mental höchst mobile Bürger, denen jegliche »Heimat« – sprich: lokaler Bezug und familiäre  Verpflichtung – ein Hindernis für ihre Karriere ist, die eben »anywhere«, also überall auf der Welt, gelingen kann. Interessant an der Rede war das politische Szenario, das Gauland entwarf: Die »Somewheres« samt ihrer selbsternannten politischen Repräsentation, der AfD, und die »Anywheres« stünden sich unversöhnlich gegenüber; die Gesellschaft sei antagonistisch gespalten. Gauland hob diese Spaltung explizit hervor. Die »Somewheres« machten in Gaulands Szenario knapp 50 Prozent des Bevölkerung aus, die »Anywheres« etwa 20 bis 25 Prozent. Alles dränge auf einen Showdown; es gelte, die »Somewheres« zu einen und sie zur entscheidenden Konfrontation mit den »Anywheres« zu führen mit dem Ziel, deren Hegemonie zu brechen und den Nationalstaat zu rehabilitieren, so der AfD-Politiker. Dass die AfD angesichts der 50 Prozent an »Somewheres« auch ­einen ebenso großen Prozentsatz an Wählerstimmen erringen könnte – so vermessen zeigte sich Gauland nicht. Aber die 20-Prozent-Marke peilte er an.

Die AfD steht für eine Spaltung, die sie doch überwinden wollte. Ihre Wahlerfolge feiert sie in Ostdeutschland, während sie in den alten Bundesländern mitunter Mühe hat, über die Fünf-Prozent-Marke zu gelangen.

Die Grünen haben die in der Rede geäußerten Erwartungen Gaulands bei der Wahl zum Europaparlament, bei der Landtagswahl in Bremen und selbst mancherorts bei den Kommunalwahlen in Ostdeutschland in gewisser Hinsicht erfüllt: Sie scheinen die 20-Prozent-Partei der »Anywheres« zu sein. Die AfD erhielt dagegen bei der Europawahl nur knapp elf Prozent der Stimmen. Mehr noch: Die AfD steht für eine Spaltung, die sie doch überwinden wollte. Denn ihre Wahlerfolge feiert sie in Ostdeutschland – und, mit Abstrichen, in den ruinierten ehemaligen Industriestädten des Westens –, während sie in den alten Bundesländern, etwa Bremen, mitunter Mühe hat, über die Fünf-Prozent-Marke zu gelangen. Die große Konfrontation fand nicht statt, die Gegner haben sich noch nicht einmal zum Duell auf Augenhöhe getroffen.

Das Szenario von »Somewheres« und »Anywheres« erweist sich als nationalistische Interpretation der realen Klassenverhältnisse: Die ökonomische Spaltung der Gesellschaft wird an der Stellung zur nationalen Frage festgemacht. Je stärker Politiker, Intellektuelle, Umweltaktivisten und »Globalisten« den Nationalismus ablehnten, so das ­faschistische Grundmotiv dieser AfD-Politik, desto antisozialer und zersetzender seien sie. Die Europawahl wurde dementsprechend zu einer Symbolwahl hochgejazzt. Aber die »Somewheres« gibt es als homogene Gruppe gar nicht. Und die grüne Ideologie der »Inhalte« – Klimapolitik, gesellschaftliche Teilhabe, Interkulturelles – scheint gerade für Leute attraktiv zu sein, die ihre Umgebung längerfristig lebenswert erhalten wollen, also eine stärkere Bindung an ihren Wohnort haben, als es die AfD wahrhaben will. Diese erhielt 4,1 Millionen Stimmen, über eine Million Stimmen weniger als bei der Bundestagswahl 2017, die Grünen konnten ihre Anzahl an Stimmen auf 7,7 Millionen mehr als verdoppeln – und das bei ­einer Wahlbeteiligung von 61 Prozent, 15 Prozent weniger als bei der jüngsten Bundestagswahl.

Alles spricht dafür, dass die jüngsten Wahlerfolge der Grünen, selbst in Ostdeutschland – sie wurden bei der Europawahl stärkste Partei in Rostock, Potsdam und Leipzig –, keine vorübergehende Erscheinung sind, sondern auf eine stabile ­Basis verweisen: In den Großstädten, darunter neun der zehn größten Städte Deutschlands, haben die Grünen gewonnen; sie vereinen die meisten Erstwählerstimmen auf sich und liegen auch in der Wählergruppe bis 44 Jahre vorne. Das ist keine Umverteilung im linken Lager, denn die Grünen verstehen sich gar nicht als links, sondern als Partei der »Inhalte«: Klima- und Ernährungspolitik, Inklusion, offene Einwanderungspolitik, Feminismus – was eben gerade anliegt. Mit welchen Koa­litionspartnern sie diese »Inhalte« verwirklichen wollen, halten sie offen.

Die Zauberformel der Grünen lautet, gesellschaftliche Fragen auf die Größe von »Inhalten«, also einzelne Sachfragen einzudampfen. Sie reagieren ­pragmatisch auf Krisen, die eigentlich nur im Weltmaßstab zu ­lösen wären.

Für die Linke – die gleichnamige Partei wie das gesellschaftliche Milieu – ist das denkbar schlecht, nicht nur weil sie, im Gegensatz zu den meisten Erstwählern, die Geschichte der Grünen sehr gut kennt, in der politische Grundsätze zuverlässig der Staatsräson und dem Machterhalt geopfert wurden. Die verbliebenen »Inhalte« der Grünen sind zudem nicht mit einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive verknüpft. Wären sie es, müssten die Grünen ihrer eigenen Wählerschaft erhebliche Einschränkungen aufbürden. Eine radikale Klimapolitik etwa implizierte eine ­radikale Kritik der Mobilität, sie bedeutete die Zerschlagung der Automobil­industrie, einen grundlegenden Ausbau des öffentlichen Sektors, schließlich eine neue Perspektive für eine postindustrialisierte Gesellschaft, in der weit mehr vergesellschaftet wäre als bloß der Wohnraum. Welcher grüne Spitzenpolitiker wagte das auszusprechen? Es bedeutete das sofortige Kar­riereende.

Die Zauberformel der Grünen lautet, gesellschaftliche Fragen auf die Größe von »Inhalten«, also einzelne Sachfragen einzudampfen. Sie reagieren ­äußerst pragmatisch auf Krisen, die eigentlich nur im Weltmaßstab zu ­lösen wären. Dieser Pragmatismus wird von jungen Klima- und Umweltaktivisten begierig aufgegriffen, denn ihr Protest ist bislang noch eine Mischung aus Naivität und Existentialismus: Naiv ist das Aufbegehren, weil die jungen Leute ihre Forderungen brav an die Politik richten und bereit sind, ihre Interessen abzutreten; dagegen steht ihr Existentialismus, denn sie bestehen bemerkenswert hartnäckig auf der Dringlichkeit ihrer Forderungen. Der Pragmatismus der Grünen ist die Rati­onalisierung dieses noch sehr emotionalen Protests. Die Partei kommt unideologisch daher, ohne komplizierten Überbau, sie verspricht klare Lösungen, die den hedonistischen Lebensstil der Jugend nicht in Frage stellen.

Die Jugendlichen, die zurzeit auf die Straße gehen, sind es gewohnt, etwas zu fordern und dabei auf nachdenkliche, liberale, auch großzügige Erwachsene zu stoßen, die schließlich nachgeben. Noch die erfrischende Kritik, die der Youtuber Rezo an der CDU geübt hat, folgt diesem Muster. Was wird aus den Protesten, wenn in den kommenden Jahren eine wirtschaftliche Rezes­sion einsetzen wird? Werden diese jungen Leute sich radikalisieren – und das heißt vor allem: sich von der Politik entkoppeln und autonom agieren?

Sollte es nicht zu Letzterem kommen, könnte sich zumindest eine Gelegenheit für »Die Linke« ergeben, die der eigentliche Verlierer der Europawahlen ist und im Vergleich zur Bundestagswahl mehr als die Hälfte ihrer Stimmen eingebüßt hat (2,05 Millionen statt 4,3). Sie bricht im Westen nicht mehr in grüne Milieus ein und verliert im ­Osten konstant an die AfD. Gregor Gysi äußerte in einem Interview am Europawahlabend die Hoffnung, der »Klimaflügel« seiner Partei um Katja Kipping könnte doch noch mit den sozialpopulistischen Anhängern Sahra Wagenknechts zusammenfinde. Er wirkte allerdings nicht zuversichtlich. An der Linkspartei läge es, in der anstehenden Rezession darauf zu beharren, dass beispielsweise eine radikale Klimapolitik und der Feminismus nicht an Relevanz verloren haben. Das Problem ist freilich, dass die führenden Partei­strategen gesellschaftliche Veränderung mit dem Regieren gleichsetzen. »Die Linke« dürfte also weiterhin mit den Grünen um »Inhalte« ringen.