German Sausage Party

Nacktsein ist kein Menschenrecht

Ein am Strand öffentlich sichtbarer Penis ist kein Ausdruck von Freiheit. Und so sollte das auch nicht verkauft werden.

Sie nannten ihn »den Strand der Deutschen«. Da liefen sie alle nackt herum. Das war alles, was wir Kinder und Jugendlichen aus der südlichen Toskana Ende der achtziger Jahre über jenen Strandabschnitt neben dem Hundestrand wussten. Kaum jemand störte sich damals an den nackten Touristen, solange sie die Grenzen ihres kleinen Strands nicht verließen. Wir, die Einheimischen, beobachteten sie vom Weitem und fragten uns: »Was sind das für Freaks?« Nach rebellischen Hippies sahen sie nicht aus, eher wie gewöhnliche nordeuropäische Touristen, die Sorte, die den Turm von Pisa vor der Kamera mit den Händen abstützt. Sie taten die ganz normalen Dinge, die spießige Urlauber so machen – weiße Socken in Birkenstocks tragen, Zeitung lesen, Sandburgen am Ufer bauen, aber eben splitterfasernackt. Am verwirrendsten fanden wir, dass es dabei gar nicht um Sex zu gehen schien. Erst viele Jahre später sollte ich begreifen, dass das alles nichts mit Vögeln zu tun hatte, sondern eine richtige »Kultur« war, eine besonders deutsche sogar. Diese »Freikörperkultur« war – und da kam mir der »Strand der Deutschen« wieder in den Sinn – alles andere als eine antikonformistische Subkultur, wie der Name suggerieren könnte. Um die »Freiheit des Körpers« zu zelebrieren, organisierte man sich in Deutschland in Vereinen, das Ganze war eine gesellschaftlich akzeptierte, streng reglementierte Angelegenheit – Leitkultur also.

Wie bei jeder Leitkultur kommt man damit, sie zu hinterfragen, nicht sehr weit. Auch nicht in gesellschaftlichen Zusammenhängen, in denen niemand auf die Idee käme, die Mitgliedschaft in einem FKK-Verein zu beantragen.

So kann es schnell passieren, dass einen Freunde zu einem See mitnehmen und einem sagen: »Mit oder ohne Textil« zu sein, sei selbstverständlich jedem freigestellt. Während der Fahrt dorthin rätselt man, was das zu bedeuten habe, aber dann ziehen sich alle ganz nackt aus und springen kreischend in den eiskalten See.

Okay, danke, dass ihr meinen Bikini toleriert. Aber dann spürt man die urteilenden Blicke der Nackten, die, anstatt ihre Freiheit in der totalen Natur zu genießen, einen mehr oder weniger direkt als verklemmte Südländerin abstempeln, die noch zu katholisch im Kopf ist, um ganz unbeschwert die Hüllen fallen zu lassen. Fast bemitleiden sie dich. Der Gedanke, dass ihre Nacktheit für andere unangenehm sein könnte, ist ihnen fremd, ebenso die Vorstellung, dass Nacktheit für manche Menschen etwas sehr Intimes ist und dass das weder falsch noch richtig ist, sondern Privatsache.
Es gibt kein allgemeines Menschenrecht auf völlige Nacktheit im öffentlichen Raum, und wenn es so etwas gäbe, sollte die Freiheit der Nackten dort aufhören, wo sich der Nichtnackte vom Anblick der primären Geschlechtsmerkmale völlig unbekannter Personen belästigt fühlt. Gregor Gysi kritisierte in diesem Zusammenhang einmal den »pornographischen Blick«, durch den sich Frauen beim Nacktsein von Männern gestört fühlen würden. Doch ich gehöre gar nicht zu den Westmännern, die er 2017 im Interview mit dem Playboy für den Niedergang von FKK in (Ost-)Deutschland mitverantwortlich machte.

Was mein »Pornoblick« sieht, braucht Herrn Gysi nicht zu kümmern, er sollte aber wissen, dass mich seine Nacktheit stören würde. Mich würde stören, dass er keinerlei Schamgefühl zu besitzen scheint – etwas, das Libertäre vom alten Schlage viel zu oft mit reaktionärer Prüderie verwechseln. Aber pudor, wie das lateinische Wort heißt – das nur unzureichend durch das deutsche Wort »Scham« übersetzt werden kann –, hat auch mit Anstand, Würde und Respekt vor dem anderen zu tun, beim Nacktsein auch mit Stil. Angezogen zu sein, macht einen zwar nicht zivilisierter, aber es sieht dadurch jeder besser aus, das lehrt uns die Mode seit Jahrhunderten.

Das stärkste Argument gegen FKK ist und bleibt für mich aber: Ich möchte selbst bestimmen, ob und wann ich einen Penis sehe, und vor allem möchte ich selbst entscheiden, wessen Penis ich zu sehen bekomme und wessen lieber nicht.